Bücher zum Thema Mutterschaft sind keine Seltenheit und gefühlt erscheinen hierzu auch recht regelmäßig philosophisch angehauchte Romane, in denen Leser*innen die jeweilige Protagonistin zwischen sehr wechselnden Gemütsschwankungen und Gedanken, sowie Entwicklungszuständen begleiten können. Natürlich liegt dies nun auch ein Stück weit am Thema, denn ein Kind bringt das Leben komplett durcheinander, kostet sehr viel Kraft und Ausdauer, benötigt Sicherheit und Geborgenheit, Ruhe und irgendwie auch Aufopferungsbereitschaft. In einer sich stets weiterentwickelnden Welt voller Unruhen und Sorgen nicht unbedingt leichte Voraussetzungen, aber wem sage ich das.
Ein Buch, das ich sehr gerne gelesen habe und das ich auch mehr als gerne auf der Longlist des deutschen Buchpreises 2021 gesehen hätte, ist Jessica Linds Roman Mama, denn hier verschmelzen eindrucksvoll große Gedanken und Fragen mit einem Hauch von Schauergeschichte in Raum und Zeit. Es ist eine recht intensive Auseinandersetzung mit Sorgen, Ängsten, Vorfreude und Verunsicherung, die Amira gerade in den Anfängen begleitet. Sie möchte gerne mit Josef ein Kind und ein Ausflug zur abgelegenen Waldhütte, in der Josef selbst die Sommer seiner Kindheit verbrachte, soll ihnen Zeit und Entspannung bringen, aber scheinbar setzt es sie mehr und mehr unter Druck, sie wachsen zusammen, und gleichzeitig entfernen sie sich voneinander. Josef möchte unbedingt zur Lichtung, die auch im weiteren Verlauf immer wieder eine bestimmte Bedeutung haben wird. Als Amira dann etwas später tatsächlich schwanger ist, kehren sie wieder zur Hütte und auch zur Lichtung zurück. Luise, die plötzlich auf der Lichtung spielt. Amira die panisch nach ihrer Mutter sucht. Ein Hund, ein Wanderer, ein Märchenbuch, ein Wechselbad aus Angst, Liebe, Aufbruch und Gefangenschaft. Die drei Stadien der Mutterschaft und die einzelnen Welten wechseln einander ab, Traum und Wirklichkeit verschwimmen, überlappen sich, wundersame Dinge passieren und lassen Amira und ihre Tochter nicht mehr entkommen. Und was gerade doch etwas wild klingen mag ist in dieser Form eine so komplett einnehmende, mitreißende und wie ein Perpetuum mobile anmutende Welt, die seine Leser*innen komplett einnimmt, in diesen scheinbaren Teufelskreis einsaugt und nicht mehr loslässt. Lind taucht dabei tief in die Psychologie ihrer Protagonistin ein, verwebt spielerisch Märchen mit Horror, große Fragen mit tiefgreifender Geschichte.
“Amira schließt die Augen. Hier hat es angefangen. Vor drei Jahren und 34 Wochen. Sie macht die Augen wieder auf. Er ist noch immer da. Er ist schön. Er ist der Mann, den sie einmal geliebt hat. Der sie geliebt hat. Nein, nicht sie. Die andere. Die andere, die ihr Kind in Gefahr bringt. Die nur an sich selbst denkt. Sie verdient Luise nicht. Luise gehört ihr, ihr allein.”
Und was soll ich nun noch sagen? Diese kurzen, klaren Sätze, diese gewisse Dramatik und Schnelligkeit, sowie diese Tiefgründigkeit in mitten dieser kunstvoll verwobenen Geschichte. Ich liebe Jessica Linds Roman wahnsinnig. Sie beschäftigt sich hier mit der Mutterschaftsfrage in vielen Facetten, von Liebe, über Ängste, der Frage nach dem (richtigen) Augenblick, dem Druck, der Vorfreude, der Veränderung, der Verzweiflung und den Sorgen, sowie der intensiven Bemutterung und verknüpft diese dann mit Märchenelementen, Träumen und surrealen Elementen. Mama ist dabei eine eher schaurig, schöne Parabel, die ihre Leser*innen auf eine recht abenteuerliche Reise, zu einer abgeschiedenen Hütte mitten in den Wald nimmt und dabei Zeit und Raum komplett aus den Angeln hebt. Es ist die Vermischung von Wahn, Wahrnehmung und Realität, die aus der anfangs eher mild und herzlichen Geschichte einer baldigen Familie, einen aufregenden, spannenden Kampf um die Freiheit machen, denn der Wald, der ihnen einst so freundlich erschien und mit zahlreichen Kindheitserinnerungen Josefs verknüpft ist, scheint sie plötzlich nicht mehr loszulassen. Und gerade durch diesen Dreh vom Familienglück, hin zum Wahn und Schauermärchen wird aus diesem doch recht luftig gesetzten 190 Seiten starken Roman etwas sehr kompaktes, ergreifendes, das sich selbst auch noch einmal aufgreift und in einer Art Schleife mit unbekanntem Ende ausläuft.
Interpretationen gibt es nun natürlich zahlreich und gerade das ist dann wieder etwas, wofür ich mich (sofern man es bis dato noch nicht gemerkt hat) total begeistern kann und diesen Roman auch noch lange nach dem Lesen sehr präsent halten wird. Das Anagramm von Amira – Maria und Josef und ihrer Bedeutung, einerseits für die Geschichte, aber auch für ‘unsere’ Geschichte, das Sinnbild der alten Bäume mit ihren starken Wurzeln oder auch dieses Bildnis des sich einmischenden Menschen auf die Umwelt (und zurück) sind da nur so einige Beispiele, die mich sehr faszinieren und in dieser Geschichte in der die Urgewalt der Mutterschaft eigentlich die Hauptrolle übernimmt, zutiefst begeistern. Ein Stück weit hat mich dieser Roman immer wieder an Max Porters Lanny erinnert, ein ähnlich eigenwilliger und doch sehr ergreifender Roman. Und am liebsten würde ich euch dieses wunderschön gestaltete Buch nun allen ans Herz legen, aber wahrscheinlich muss man sich auf diese etwas verrücktere Geschichte einlassen können und Romane mögen, die eben auch Freiräume lassen und nicht alles auf dem Silbertablett servieren… doch wenn das der Fall ist, wird euch diese erzählerische Sogwirkung ganz gewiss nicht kalt lassen, aber Vorsicht, wer einmal den Wald betreten hat, wird ihm so schnell nicht wieder entkommen.
“Amira hat das Bild vor Augen, ein Schlund, der gefüttert werden will. Bisher hat sie dem Wald vertraut. Jetzt kommt es ihr vor, als würde er seine Späher aussenden. Im Verbogenen ranken sich die Wurzeln. Nach allen Seiten strecken sie sich aus, tasten sich voran. Es stimmt, dass sich die Bäume nicht bewegen können, aber das müssen sie nicht, der ganze Wald ist ein Organismus. Und auch die Hütte in ihrer Mitte, auch Amira und Luise sind ein Teil davon.”
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Jessica Lind – Mama.
Kremayr & Scheriau.
192 Seiten. 20 Euro. Hardcover.
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