Ich gebe zu, ich tue mich gerade etwas schwer. Worte zu finden, für eine Geschichte bzw. ein Buch, dass mich über Monate hinweg begleitet hat, ohne einen Lesesog oder Begeisterungsstürme zu verursachen, ist nicht gerade leicht und doch möchte ich diesem sehr feinsinnigen Roman auch irgendwie gerecht werden… Die Glasschwestern von Franziska Hauser ist eine Geschichte über den Neuanfang, neu gewonnenen Lebensmut und irgendwie auch über den Zusammenhalt einer Familie, mitsamt zu meisternder Höhen und Tiefen.
“Das Erschreckende ist, dass sich mein Leben kaum verändert hat ohne ihn. Jetzt merke ich erst, wie sehr wie uns in den letzten Jahren ignoriert haben. Irgendwann bringen wir unsere Beziehung wieder in Ordnung, hab ich gedacht. Wenn wir mal Zeit haben…”
Die beiden Zwillingsschwestern Saphie und Dunja könnten kaum unterschiedlicher sein. Während Dunja recht schnell ihr Heimatdorf an der ehemals deutsch-deutschen Grenze verlassen wollte, in der Stadt Fuß fand, ihren Weg als Lehrerin ging und nun mit ihrem Mann und zwei Kindern noch immer in der Stadt verweilt, blieb Saphies Leben irgendwie stehen. Als Jugendliche wollte sie nach einem Streit ihr Zuhause verlassen, doch sie verpasste knapp die letzte Bahn in die Stadt. Ohne Geld und hungrig, kehrte sie schnell wieder nach Hause zurück und blieb. Mit ihrem Mann betreibt sie nun im Ort ein kleines Hotel, das für viele aus der ganzen Welt so etwas wie ein zuhause bietet, doch sie selbst scheint einfach nur ein gut angepasstes Zahnrad der alltäglichen Routine zu sein.
Als dann eines Tages das Schicksal zuschlägt und beiden beinahe zeitgleich ihre Männer raubt, gerät ihr ganzes Leben ins Wanken und sie versuchen sich neu zu finden. Dunja zieht zu Saphie ins Hotel, sie nähern sich schrittweise wieder an und gehen nun gemeinsame Wege. Und alles könnte dann ganz normal laufen, jeder sich einbringen und beide könnten erneut zu einem geregelten Leben zurückfinden, doch mit der Recherche eines Kamerateams werden sie von alten Erinnerungen wieder eingeholt. Vor fünfunddreißig Jahren wurde ganz in der Nähe ein Tunnel gegraben, der auf die andere Seite der deutschen Grenze führen sollte und irgendwie hatte da auch ihre Familie die Finger im Spiel. Heimlichkeiten und Lügen holen sie wieder ein, ihre derweil berühmt gewordene Schwester Lenka taucht wieder auf und auch Dunjas Kinder verursachen die ein oder anderen Probleme. Und Saphie? Sie umtreibt eigentlich nur die Frage: Wie hätte ihr Leben ausgesehen, hätte sie damals den Bahnhof nur einige Minuten früher erreicht?
“Das war jetzt also mein vierzigster Sommer, denkt Saphie. Keinen davon hat sie woanders als hier verbracht. Wo sie im nächsten Sommer sein wird und wie viele Sommer sie noch haben wird, fragt sie sich jetzt selbst. Gilbhart hatte nur neunundvierzig.”
Was nun nach einer doch recht interessanten Kombination aus historischen ‘Gegebenheiten’, tiefgründigen, leicht philosophischen Gedanken und herausfordernden Ereignissen in Form eines Generationenromans klingt, entpuppte sich nun eher als eine leicht, ruhige Erzählung ohne großen Wellengang. Franziska Hauser haucht ihren Charakteren sehr ruhig und einfühlsam Leben ein. Die Gedankenwelt ihrer Protagonisten*innen, das sich plötzlich ändernde Leben, die neu gewonnene Freiheit und die frühere Abhängigkeit bieten ihr sehr viele gestalterische Möglichkeiten. Und doch nutzt sie dieses Spektrum nicht komplett. Sie beschäftigt sich zunächst mit Dunja, ihrem Leben in der Stadt, ihrem Haltverlust und irgendwie auch ihrer Einsamkeit. Ihre eigenen Kinder stellen anfänglich nur eine Randerscheinung dar und sind später Zeugen der Verletzlichkeit dieses familiären Gefüges und dessen Auswirkungen. Depressive Züge kommen neben diesen ‘es geht weiter’-Gedanken zum Vorschein und bringen vieles noch einmal ins Wanken. Und auch Saphie, dieser sehr starke, weiterfunktionierende Charakter und die Stütze des Ganzen gerät ins Wanken und verliert sich. Nun ist es auf einmal Dunja, die mehr Optimismus und Stärke erfährt. Hauser legt nun den Fokus auf ihre alles hinterfragende und rudernde Protagonistin. Es dreht sich vieles um die Lebensplanung, den Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt und dem damit verbundenen Neuanfang und das in zwei ganz unterschiedliche, gar konträre Richtungen. Es ist wie Ying und Yang und das ganze Drumherum aus Vergangenheit, Abhängigkeit und Zukunft. Und diesen Gedanken, was das Schicksal für uns bereit hält und in wie weit sich von jetzt auf gleich alles ändern kann und bei dem einen eben früher in die Verzweiflung und Ungewissheit führt, während es bei anderen länger dauert oder sich ganz unbemerkt einen Weg bahnt, fand ich sehr faszinierend. Allerdings tauchen dann auch immer wieder so extrem poetisch anmutende, kitschige bis schmalzige Abschnitte auf, die mich sehr gestört haben. Auch dieser erwartete Spannungsbogen blieb gänzlich aus, denn die Handlung des Kamerateams läuft eher nebenbei ab und die Aufdröselung ist dann vergleichbar mit einer kleinen, aufsteigenden Seifenblase, die einfach so plopp macht, ohne dass man es wirklich bemerkt. Und das fand ich so extrem schade und deshalb hat sich diese ganze Geschichte für mich auch so hingezogen und konnte keine wirkliche Begeisterung entwickeln. Das Glas scheint für Hausers Gerüst ein sehr, sehr wichtiges Element darzustellen, aber bis auf die Zerbrechlichkeit, den Bezug zum früheren Beruf des Vaters und einer verschenkten Glasperlenkette konnte ich leider keine weiteren Anhaltspunkte mehr finden und irgendwie hätte ich mir auch an dieser Stelle, zumal der Roman ja auch Die Glasschwestern heißt, mehr gewünscht.
Es ist sicherlich ein tolles Buch für jene, die sehr ruhige, feinsinnige Erzählungen lieben und es mögen, sich mit den Protagonisten auf eine dörflichere Reise durch ihre Gedankenwelt und die möglichen Entwicklungen und Neuanfänge zu begeben, aber diesen “fulminanten” Roman konnte ich einfach nicht entdecken – Ein bisschen mehr Spannung und Tiefe und dafür weniger Kitsch hätte dem Ganzen schon ganz gut getan.
“Sie fragt sich, was der Ort aus ihr gemacht hat und warum er ihr jetzt so fremd vorkommt. Der Ort antwortet ihr nicht, und Saphie denkt, dass sie ihm vielleicht ebenso fremd vorkommt. Sie gehört nicht mehr dazu und ist dem Ort egal, wie eine beliebige Touristin.”
Franziska Hauser – Die Glasschwestern.
Eichborn.
430 Seiten. 22 Euro. Hardcover.
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