Dass Geschwister sich mal kabbeln ist wahrscheinlich normal. Sie kennen sich ein Leben lang, leb(t)en für einen meist sehr langen Zeitraum dicht nebeneinander, werden sich hier und da sicherlich auch mal dem Willen des anderen widersetzt, ihn verletzt oder enttäuscht haben oder entwickeln sich einfach in komplett verschiedene Richtungen.
Doch, dass in Alex Schulmans Roman “Die Überlebenden” etwas gewaltigeres hinter allem steckt merkt man recht schnell. Der*die Leser*in begegnet den drei Brüdern übel zugerichtet und fertig vor einem etwas abseits gelegenen Sommerhaus in Schweden. Hier, am Ort ihrer Kindheit, wollten sie gemeinsam den letzten Willen ihrer Mutter erfüllen und ihre Asche verstreuen. Doch… “Was hatten sie gedacht, was passiert, wenn sie schließlich an den Ort zurückkehren, dem sie ihr Leben lang zu entkommen versucht haben?”
Nils schleudert Pierre kurz danach die Urne gegen die Brust und ein handgreiflicher Streit beginnt. Währenddessen schaut Benjamin mehr oder weniger ratlos und wie festgewachsen zu. Er scheint eh jeher, der etwas Ängstlichere und Unsichere der Familie und Vaters Liebling gewesen zu sein. Während Nils eher immer Mamas Liebling war und Pierre so zwischendrin. Zwanzig Jahre sind nun vergangen, seit dem sich ein Riss innerhalb der Familie auftat über den sie nie wirklich sprachen. Langsam nähert man sich nun mit jeder Seite der Vergangenheit und den Geschehnissen innerhalb der Familie an, lernt die etwas abweisende grobe Mutter kennen, den Vater und Schritt für Schritt den Traumata, die die Familie nicht nur leiden ließen, sondern auch für immer verfolgen werden.
“Mein Leben lang habe ich mich allein schuldig gefühlt […] Aber ihr wart dabei.” “Wir waren Kinder”[…]”Und wir waren Brüder. Erinnert ihr euch, was Papa immer gesagt hat? Er hat gesagt, wir sollen uns glücklich schätzen, weil nichts einen Menschen so stark macht wie Brüder.”
Ganz ehrlich? Was für eine krasse, überrumpelnde Geschichte. Aller Anfang gestaltet sich jedoch schwierig. Lange plätschert die Geschichte so vor sich hin und man lernt so einige Eigenarten der einzelnen Familienmitglieder kennen. Irgendwie ist auch stets die etwas angespannte Situation innerhalb der Familie zu merken, der man sich von außen nie so wirklich annähern, noch sie verstehen kann. Gerade die abweisende Art der Mutter und das Verhältnis zwischen den Brüdern gibt hier sehr viele Rätsel auf. Doch dann nimmt alles mit der zweiten Hälfte dieses Romans rasant an Fahrt auf und der*die Leser*in stolpert von einem Augen öffnenden Ereignis zum Nächsten. Und gerade das Ende stellt noch einmal alles auf den Kopf. Die letzten Seiten haben mich wahnsinnig fertig gemacht, teilweise war ich innerlich komplett unruhig und musste mich zum Lesen überwinden. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, der Trauer und des Leids setzen ein und bescherten mir ein wahnsinnig intensives Leseerlebnis, das ich bisher nur bei Krimis und Thrillern erlebt habe. Dieser Plot ist beinahe wie eine Zündschnur, die zuerst sehr verhalten und dann mit lautem Knall die anfängliche Fassade zusammenbrechen lässt und Blicke auf traumatische Erinnerungen frei gibt, die man sich so nicht vorstellen kann. Und eigentlich auch nie so wirklich wahr haben möchte. Selbst der Gedanke an diese Geschichte bereitet mir gerade Gänsehaut. Ich glaube mehr sollte ich an dieser Stelle auch noch nicht verraten, denn dieses Bild muss man sich beim Lesen schon so ein bisschen erarbeiten. Mit den einzelnen Protagonisten wird man recht lange nicht wirklich warm werden, aber das Rätsel um ihre Geschichte treibt einen durch diesen Roman und das lässt den*die Leser*in garantiert nicht kalt.
“Die Brüder waren sieben, neun und dreizehn Jahre alt, und wenn sie zusammen Fußball oder Karten spielten, konnte es inzwischen in so heftigen Streit enden, dass Benjamin spürte, wie etwas zwischen ihnen zerbrach. Noch höher war der Einsatz, wenn ihr Vater sie gegeneinander aufstellte, wenn er so klarmachte, dass er herausfinden wollte, wer von ihnen in irgendetwas der Beste war.”
Generell hatte ich immer das Gefühl, dass die Brüder sehr häufig um die Gunst ihrer Eltern buhlen müssen, sich teilweise wahnsinnig anstrengen müssen, um überhaupt Anerkennung und Liebe zu erfahren und selbst dann ist es immer nur ein kurzer Moment. Diese Eltern-Kinder-Trauma-Geschichte, so würde ich es am Ende dann am ehesten nennen, zeigt auf jeden Fall was Glück bedeutet, aber eben auch wie fragil dieses, das Leben und seine Umstände sind. Eigentlich auch, dass jeder Moment wahrsinnig kostbar ist und sich eben alles von heute auf morgen komplett ändern kann. Das feste Familienband reißt, einzelne Familienmitglieder/Menschen fühlen sich immer wieder im Stich gelassen, während andere in ihren eigenen Welten leben, Dinge verdrängen, es sich irgendwie zusammenreimen und selbst wenn die Geschehnisse irgendwie verarbeitet wurden, es einfach nie wieder so sein kann, wie früher. Und das obwohl gerade in schwierigen Momenten der Zusammenhalt, das Wichtigste, wenn nicht sogar das Entscheidendste ist.
Alex Schulman nähert sich in diesem Roman schrittweise und sehr vorsichtig diesem riesengroßen Themenkomplex Trauma und Traumaverarbeitung innerhalb einer Familie an. Vom Lesen her kann man schon so ein bisschen mit einer Detektivarbeit vergleichen, denn der*die Leser*in lernt nur schrittweise die Vergangenheit und eben jene lebensprägenden Ereignissen kennen. Die Kapitel sind dabei in einzelne, rückwärtslaufende Stunden des Tages und Erinnerungen eingeteilt, die sich abwechseln und dank wiederkehrender Elemente immer wieder miteinander verknüpfen, zwischen alltäglichen Familienszenen, eben jener harten Kost und der Gegenwart einen Bogen schlägt. Und so macht es “Die Überlebenden” nicht nur von der Geschichte und Erzählart zu einem sehr faszinierenden, aufwühlenden Roman, sondern auch vom Aufbau zu einem sehr starken Buch, das unbedingt gelesen werden möchte.
“Wie ist es für dich, wieder hier zu sein?”, fragte Nils. “Keine Ahnung”, antwortete Benjamin. “Es ist, als würde ein Teil von mir sagen, dass ich zu Hause bin. Und ein anderer Teil brüllt: Lauf weg! […] Es war merkwürdig, die Stelle wiederzusehen […] In meinem Kopf bin ich so oft dort gewesen. Wie im Zeitraffer habe ich alles vor mir gesehen, immer wieder. Und jetzt …”
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Alex Schulman – Die Überlebenden
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz.
dtv.
304 Seiten. 22 Euro. Hardcover.
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