Tom Hazard ist 40 Jahre alt und Geschichtslehrer an einer Londoner Schule. Niemand lehrt dieses Fach so lebendig wie er. Und das hat einen guten Grund: Er hat das was er lehrt, selber miterlebt. Denn Tom leidet an einem Gendefekt, der ihn wahnsinnig langsam altern lässt und eigentlich ist er keine 40 Jahre alt, sondern bereits 439. Er wurde im 17. Jahrhundert in Frankreich geboren und flüchtete zusammen mit seiner Mutter nach England. Weil der junge Tom ab seinem 13. Lebensjahr sich nur sehr langsam körperlich weiterentwickelt, wird seine Mutter der Hexerei bezichtigt und ertränkt. Tom flieht nach London, verdient sein Geld mit dem Spielen der Laute und lernt Rose kennen, seine erste und einzige große Liebe, mit der er auch eine Tochter bekommt. Doch Toms „Krankheit“ führt schon bald wieder zu Problemen und er verlässt die Familie. Ab da beginnt sein Leben als Einsiedler. Doch irgendwann erfährt er, dass er mit seinem Leiden nicht alleine ist und schließt sich der „Gemeinschaft der Albatrosse“ an. Und deren erste Regel lautet: Du darfst dich niemals verlieben oder eine andere Beziehung zu Menschen eingehen…
„[…] jede Wahrheit, die die Menschen nicht zu glauben bereit sind, klingt erstmal wie Sciencefiction […] Stammzellen, Klimawandel, Wasser auf dem Mars. Alles ist Sciencefiction, bis wir es mit eigenen Augen sehen“
Matt Haigs neuer Roman hat mich von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen. Erzählt wird die Geschichte in der Gegenwart, Haig springt aber auch immer wieder in die Vergangenheit, so dass der Leser etwas über Toms Geschichte erfährt. Und in 400 Jahren passiert so einiges. Tom berichtet, wie er Laute im Globe Theatre für Shakespeare spielte, mit Kapitän Cook auf Entdeckungsreise geht und in den 1920er Jahren für Fitzgerald und Josephine Baker Klavier spielte. Haig zeichnet ein beeindruckend tiefes Bild seines Protagonisten.
Was ich an den Geschichten des Autors sehr schätze, ist seine klare und einfache, aber dennoch eindrucksvoll poetische Sprache. Durch seine Erzählweise kann man sich sehr gut in seine Figuren hineinversetzen. Die Geschichte um Tom Hazard ist wahnsinnig melancholisch, aber auch wahnsinnig lebensbejahend. Denn sein Leben lang ist Tom auf der Flucht, hält sich versteckt, um nicht als Versuchsobjekt in die Hände von Wissenschaftlern zu fallen. Aber er lebt. Weil er es versprochen hat. Seiner Frau und seiner Tochter.
„Das ist das Wesen der Zukunft. Wir kennen sie nicht. Irgendwann müssen wir uns damit abfinden. Wir müssen aufhören, nach vorn blättern zu wollen, und uns stattdessen auf die Seite konzentrieren, auf der wir gerade sind.“
Liest man den Klappentext, so erwartet man eine Liebesgeschichte. Und das ist es auch in gewisser Weise. Aber nicht im klassischen Sinne. Matt Haig erzählt eine Geschichte über die Liebe am Leben. Und zwar über das Leben im Hier und Jetzt. Viele Jahre lang lebt sein Protagonist gedanklich in der Vergangenheit mit Angst vor der Zukunft. Dadurch wird ihm ein großes Stück Lebensqualität genommen. Aber er lernt, dass es wichtiger ist, sein Leben einfach zu genießen und sich nicht einschränken zu lassen.
Durch die ständigen Sprünge in Toms Vergangenheit, die natürlich fiktiv sind, aber dennoch auf wahren Begebenheiten beruhen, macht Haig außerdem deutlich, dass Geschichte sich immer wieder wiederholt. Dass wir zwar glauben, aus der Vergangenheit zu lernen, dies aber absolut nicht der Fall ist.
Mich hat „Wie man die Zeit anhält“ beeindruckt, unterhalten, zum Lachen gebracht und zum Nachdenken angeregt. Das sind Dinge, die für mich einen guten Roman ausmachen. War ich anfangs mit den vielen Rückblenden ein wenig überfordert, so ergaben sie im Verlauf des Romans immer mehr Sinn und in Kombination mit den Kapiteln der Gegenwart zum Schluss ein rundes harmonisches Ganzes.
Ich lege euch diesen Roman wirklich ans Herz. Durch den leichten Schreibstil ist es bestens geeignet für die kommenden Sommerabende.
“Wie man die Zeit anhält” von Matt Haig ist erschienen im dtv-Verlag. Mehr Infos zum Buch und eine Leseprobe findet ihr hier >>>
Photo by Niklas Rhöse
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