Roman |”Vatermal” – Gefühlschaos pur – Necati Öziris bewegendes Debüt über ein viel zu kurzes Leben mit viel zu vielen Hürden. Ein Brief voller Emotionen, Leben, Liebe und Vermissen?!

Bei “Vatermal” von Necati Öziri kann man bereits nach den ersten Zeilen erahnen, dass es sich um einen intensiven und emotionalen Roman handelt. Und irgendwie wusste ich es bereits da, dass dieses Buch eins meiner liebsten in diesem Jahr werden würde, denn hier vereint sich für mich etwas sehr persönliches mit einer interessanten Familienkonstellation und Migrationsgeschichte.

“Wunden schmerzen selten im Moment ihrer Entstehung. Meistens spürt man das Pochen im Kiefer und das Brennen über der Augenbraue erst, wenn die Prügelei längst vorbei ist […] und der Körper die Ruhe hat, sich dem zu widmen, was passiert ist. Genauso ist es mit dem Sprechen. Wir können erst erzählen, wenn wir uns gerettet haben und die Wunden zu heilen beginnen.”

…oder das Ende naht. Arda weiß nicht, wie lange er noch leben wird. Er liegt auf der Intensivstation. Sein Immunsystem greift seinen Körper an, sieht jedes Organ wie einen Fremdkörper. Ein Fremdkörper… so muss man sich sicherlich auch fühlen, wenn man nach Deutschland immigriert. Zeiten der Ungewissheit, die Einbürgerung, Gedanken zwischen alter und neuer Heimat. Arda nimmt die Leser*innen mit durch sein Leben, erzählt von verschiedenen Ereignissen und Lebensabschnitten, von seinen Eltern in der Heimat, Geburtstagen im Ausländeramt, seinen Freunden, Polizeikontrollen, seiner Familie, die mit ganz anderen Träumen und Wünschen nach Deutschland kam. Beziehungsweise, eigentlich möchte er es nur einem erzählen… seinem Vater. Wahrscheinlich hatte damals niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet er wieder zurück geht und Ümran mit ihren zwei Kindern Aylin und Arda in Deutschland zurücklässt.
Wie fühlt es sich an nach Deutschland zu kommen, ohne Vater aufzuwachsen und ihn maximal von Geschichten anderer zu kennen? Was würde man ihm von sich erzählen? Und wie geht man damit um, wenn man im Krankenhaus liegt, plötzlich mit seinem eigenen Tod konfrontiert wird und tagtäglich in ein Buch “Mein Name ist Arda Kaya, und es geht mir gut.” kritzeln muss?

“Hast du dir auch schon mal vorgestellt, dass ich tot bin? Du weißt natürlich nicht, dass ich jetzt gerade hier liege. Nur für den Fall also, dass du nächstes Jahr wider Erwarten auf die Idee kommen solltest, den Hörer doch noch in die Hand zu nehmen oder vor meiner Tür aufzutauchen, nur um dann festzustellen, dass du leider zu spät bist, werde ich es dir hier aufschreiben. Du sollst wissen, wer ich gewesen bin.”

Schon allein die Gedanken an diese Geschichte erzeugen bei mir eine Gänsehaut. Es ist kein Buch, dass einfach so spurlos an einem vorbeizieht und ich glaube, ein jede*r könnte hier so einige Berührungspunkte mit Arda und seiner Familie haben, sei es durch eine eigene Migrationsgeschichte oder, wie bei mir, der fehlenden Vaterfigur, eine schwierige Kindheit, verschiedenste Erinnerungen in der Schule, mit Ämtern oder oder… was alles noch einmal viel intensiver erleben lässt und emotional aufwühlt. Seit diesem Roman frage ich mich z.B. ständig was ich meinem Vater wohl erzählen würde, welche Momente mir im Leben besonders wichtig erscheinen oder besonders schmerzhaft waren. Was würde ich tun, wenn man mir sagen würde, das alles hier wäre bald vorbei? Worauf bin ich stolz im Leben? Worauf nun so gar nicht? Was würde ich ihm vorwerfen? Wie hat sich mein Aufwachsen von dem Aufwachsen in einer ‘vollständigen’ Familie unterschieden? Hat(te) dies sogar Vorteile? Wahrscheinlich gibt es auf diese vielen Fragen keine wirklich richtigen Antworten und auch Öziris Protagonist rettet sich quasi nur mit der Vorstellung etwas von sich zu hinterlassen – Die Idee des Aufschreibens; eines Briefes ohne zu wissen, ob dieser seinen Empfänger jemals erreichen wird. Es sind diese vielen, aneinandergereihten Momente und Szenen, die die Leser*innen in ein regelrechtes Gefühlschaos stürzen; zwischen lachen, trauern, weinen, fassungslos und wütend zuschauen oder mit dem Kopf schütteln. Öziri greift dabei nicht dieses doch sehr gängige Schläger-Gangsterklischee über Migranten auf, sondern vermittelt den Leser*innen eine Welt, die nicht rund läuft, in all ihren Facetten den Protagonisten Steine in den Weg wirft und sie dennoch niemals zur Aufgabe zwingt, vielleicht sogar am Ende noch ein wenig hoffen lässt.
Dieser Roman ist für mich eine Art Herzensbuch geworden und gerade durch diese mögliche Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Leben, anderen Lebensrealitäten und dieser sehr klaren, nahbaren und gefühlvollen Erzählung etwas, das man nicht so leicht und schnell wieder vergessen kann. Vielleicht ist ein Buch für alle die “Dschinns” liebten, nur dass “Vatermal” weniger krampfhaft aktuell sein und unbedingt gefallen will. Öziri überzeugt mehr mit Gefühl, Empathie und ‘Echtheit’. Und das ist bei diesem Thema schon etwas ganz besonderes. Eine wirklich große Leseempfehlung von mir!

“Ich nehm dir nicht übel, dass du nicht hier bist. Ob du es glaubst oder nicht, Metin, unter all den Szenarien, die ich mir immer wieder vorgestellt habe, war auch, wie du zum Telefon greifst, um mich anzurufen, und es dich am Ende doch nicht traust. Ich hätte mich gefreut. Ich möchte, dass du das weißt. Ich hätte gerne auch deine Geschichte aufgeschrieben. Dass du nicht vorkommst, ist nicht meine Schuld.”

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Necati Öziri – Vatermal.
Claassen.
294 Seiten. 25 Euro. Hardcover.

8. August 2023

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