Es gibt so Bücher, die haben einen ganz besonderen ‘Zauber’. Und so ist es dann auch mit Lanny von Max Porter um mich geschehen. Optisch kommt dieses kleine Büchlein mit seinem Leineneinband und der gesamten Aufmachung einem Kunstwerk recht nahe, das unbedingt entdeckt werden möchte. Und natürlich stellt sich dann auch recht schnell die Frage: Wer ist eigentlich dieser Lanny? Und wo ist er gerade?
“Wo finde ich das WLAN-Passwort? Warum juckt das jetzt noch, obwohl ich das Etikett entfernt habe? Warum tauen die Hähnchenbrüste so langsam auf? Wo ist mein Sohn?
Eine Frau überlegt beiläufig, wo ihr Kind steckt, unbesorgt, weil es nie da ist, wo sie denkt.”
Altvater Schuppenwurz wacht mal wieder recht launisch und leicht gereizt aus seinem Nachmittagsschlaf auf. Ein paar Traumfetzen hängen noch in seinen Gedanken, er schrumpft und erlabt sich an den Gesprächsfetzen und Gedanken der Dorfbewohner. Er freut sich über jeden einzelnen Laut und ganz besonders über die Stimme eines ganz bestimmten Jungen. Lanny. Er ist ein ganz besonderes Kind, voller Fragen, unvoreingenommen und neugierig. Und anscheinend auch einer der wenigen, die noch an die mythische Gestalt des Altvater Schuppenwurz glauben. Alles könnte so toll sein, so anders und doch beginnt dann mit Lanny’s plötzlichem Verschwinden eine Tragödie, die ein ganzes Dorf bewegt, Vorurteile bestärkt und Hoffnungen auf die Probe stellt.
“Ich empfand tiefe Verzweiflung, mir schien, das vermisste Kind sei genau das, was wir verdienten, und verlorene Kinder die einzige Geschichte, die uns bliebe, und die Grausamkeit des Gedankens ließ mich würgen.”
Lanny hat mich persönlich anders getroffen ,als erwartet und gerade deshalb finde ich es toll. Märchen begeistern mich bereits seit meiner Kindheit. Natürlich sind die neu verfilmten/aufgelegten Märchen oftmals um Längen niedlicher, kinderfreundlicher und weniger blutrünstig als ihre damaligen Vorgänger, aber ihnen ist im Laufe der Zeit die enorme Aussagekraft und die Hoffnung, dass sich alles noch zum Besten wenden wird, erhalten geblieben. Und irgendwie finde ich auch bei diesem Buch den Vergleich mit einem Märchen recht passend. So dachte ich beim Lesen ständig an eine Mischung aus Das kalte Herz und Schneeweißchen und Rosenrot. Wahrscheinlich weil es auch in beiden ein Männchen gibt, das so klein, grantig und doch von der Menschheit so abhängig ist. Altvater Schuppenwurz ist so eine ähnliche Figur, die von den Menschen aus dem Dorf vergessen wurde und aus dem einstig mächtigen, angsterregenden Männchen wird ein Nichts (um nicht Witzfigur zu sagen).
Die ganze Geschichte um Lanny ist teilweise zwar etwas verwirrend, aber gerade das macht die Faszination dann auch wieder aus. Das Buch ist insgesamt recht künstlerisch und daher sollte man es auch etwas freier betrachten. Die Wortfetzen der Menschen, die Schuppenwurz erreichen, sprengen den gewöhnlichen Satzspiegel und fliegen kreuz und quer durch die Seiten. Während es jedoch im ersten Teil noch eine genaue Zugehörigkeit gibt, so verschwimmt das Erzählte immer mehr. Im zweiten Teil ist der Text eher als eine Aneinanderreihung verschiedener Gedanken und Fragmente zu sehen, bis dann im Dritten eine gedankliche Herausforderung erkennbar wird. Es ist die Frage, ob Traum oder Wirklichkeit, ob Zauber Schuppenwurz’s oder alles doch einzig reine Einbildung ist. Im Klappentext heißt es so schön, dieser Roman sei “eine bewegende Warnung davor, was wir zu verlieren haben, und eine Hymne an alles, was wir nie ganz verstehen werden.” Besser könnte ich es nicht formulieren. Es beschreibt die zwei unterschiedlichen Bilder, von Menschlichkeit und Aberglaube. Lanny scheint etwas zurückgeblieben, anders und einzigartig zu sein, er kann sich für ganz andere Dinge begeistern und hinterfragt vieles, so ganz natürlich. Schuppenwurz symbolisiert für mich etwas sehr altes, was in Vergessenheit geraten ist und die Menschen doch auch weiterhin begleitet und lenkt. In wie weit etwas geschehen, vorstellbar und real ist, ist dabei gänzlich unwichtig. Dieses Buch ist ein Ausflug, eine künstlerische Auseinandersetzung teilweise genauso fraglich wie Zufälle und das Leben selbst.
Vorurteile, Verbindungen, Besonderheiten, Liebe, Hoffnungen, Menschlichkeit, Alltägliches, Verlust, Manipulation… die Liste könnte ich ewig fortsetzen und alles sind Themen, die in diesem Roman kritisch bis lehrreich aufgeworfen werden. Max Porter schafft es mit wenigen Worten Bilder zu erzeugen und Gedanken in Gang zu setzen für die andere hunderte Seiten benötigen. Dieser Roman ist eine Kritik an der Zivilisation und irgendwie auch eine Hommage an die Besonderheit jedes Einzelnen und den Glauben als solches.
Am liebsten würde ich es nun jedem einzelnen von euch aufdrängen wollen, doch das wäre falsch. Zumindest fürchte ich, dass gerade diese Verwirrung und der Aufbruch des klassischen Rasters für viele eine große Hürde darstellen und diese die Freude trüben würde. Für mich war es ein großartiges Buch, doch ich sehe es eher als Kunst. Und so wird dann auch ein grünes Bild für manche nur ein grünes Bild bleiben, für andere ist es jedoch das pure Leben.
“Der Junge kennt mich.
Er kennt mich wirklich und wahrhaftig.”
Max Porter – Lanny
Aus dem Englischen von Uda Strätling und Matthias Göritz.
Kein & Aber.
224 Seiten. 22 Euro. Hardcover | Leinen.
//Leseexemplar.
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