Dass Roadtrips etwas spannendes und lehrreiches sind, einem viel über die unterschiedlichsten Kulturen und die dort lebenden Menschen verraten und die Reisenden auch insgesamt mehr mit den jeweiligen Regionen zusammenbringen, hat Gerhard Waldherr mit seinem Buch und der Erinnerungssammlung “Die erste Reise” ja bereits bewiesen, doch was ist, wenn man sich weniger mit den Lebenden beschäftigt? Leonhard Hieronymi begab sich für seinen Roman in die Gesellschaft von toten Schriftsteller*innen und besuchte das, was mehr oder weniger übrig bleibt. In In zwangloser Gesellschaft reist Hieronymi an die Orte der Toten, besucht Friedhöfe in ganz Europa und schildert seine Eindrücke, Suchen und Gedanken zu einzelnen bekannteren oder unbekannteren Literaten und zufälligen Begegnungen.
“Ausgehend von all diesen Fällen und Entwicklungen und dem Gedanken, dass das endgültige Verschwinden vielleicht eher ein Glück als ein Unglück ist und außerdem einen quasi unerreichbaren Luxus darstellt, beschloss ich, eine Reise zu sowohl den Unsterblichen als auch den Vergessenen und den beinahe Verschwundenen zu unternehmen. Ich wollte ihre Gräber finden Ich wollte wissen, wie nahe man dem Verschwinden wirklich kommen konnte…”
Wahrscheinlich könnte man nun sagen, dieses Buch ist speziell, es ist anders und obwohl gerade Tote und ihre Grabmale im Fokus des Autors liegen, so ist es doch eine sehr lebendige Geschichte. Ein Stück weit erinnert es mich sogar an Seethalers Das Feld, wobei in diesem Fall eher die Hinterlassenschaften der jeweiligen Künstlerinnen oder ihrer Fans, Pilger und Orte des Friedens für sich sprechen und gleichzeitig die Gesellschaft (doppeldeutige Bedeutung) und Historie abbilden. Wer nun aufregende Geschichten erwartet, den muss ich leider an dieser Stelle komplett enttäuschen, manchmal musste ich mich auch motivieren weiterzulesen, denn von vielen beschriebenen Schriftstellerinnen habe ich noch nie was gehört, noch habe ich ein wirklich großes Interesse an Friedhöfen oder bin ein Groupie des Autors und versuchte hier mehr über sein Leben zu erfahren, aber was ich an diesem Roman sehr spannend fand, sind die am Ende übrig bleibenden Fragen: Wie gehen wir mit dem Erbe und den Hinterlassenschaften um? Wie ehren wir den Menschen, egal ob nun berühmt, vermögend, kreativ oder nicht, für sein Leben? Warum blieben viele Autorinnen (vermutlich sind sie dann doch eher weiblich) der Vergangenheit unbekannt und was ist es, das fremde Menschen an die Grabmale pilgern lässt? Was macht Literatur bzw. das literarische Vermächtnis mit uns? Gerade das nebenbei erwähnte Zitat von John Keats “Die Stadt, der Kirchhof und das Licht,/ Die Wolken, Bäume, Hügel überm Wald:/Sie kommen schön, doch traumhaft fremd und kalt, Geträumt vorzeiten, abermals in Sicht.” – hat mich dann doch u.a. sehr lange beschäftigt. Gefühlt ist es oftmals das schnodderige Leben, das Treiben lassen, die beschriebene Welt an sich, die gerade solchen Zeilen sehr viel Tiefgang und Kraft ermöglichen. Hieronymi macht Lust, sich mit vielen seiner besuchten Orte und Menschen auseinanderzusetzen. Dieses Buch ist quasi mehr ein Anstoß, eine Tür, hinter der die philosophische Auseinandersetzung mit dem Tod und der Hinterlassenschaft, in Kombination mit der heutigen Welt, wartet.
“Auf Herrndorfs Grab lagen nicht nur Steine, sondern auch Kastanien, Münzen, Marienkäfer aus Holz und Federn. Unterschiedlichste Abladementalitäten waren in letzter Zeit vor diesem Grab zusammengekommen.”
Dieser Unterschied zwischen vergessenen bis bereits verschwundenen Gräbern, prunkvollen Wallfahrtsorten für zahlreiche Fans, Gedenkstätten und Grabmälern einfacher Leute. Diese Ungleichheit und Individualität, diese Aufmerksamkeit und Ignoranz der heutigen Generationen. Friedhöfe sind heutzutage nicht mehr nur Orte für die Hinterbliebenen, es sind häufig große Parkanlagen innerhalb der Großstadt, Erholungsorte und Orte der Ruhe, manchmal sind es kleine unauffällige, eingezäunte Wiesen, manchmal menschenüberströmte Pilgerstätten voller Geschichten oder einfach nur Abkürzungen durch die Stadt. Hieronymi macht da kaum Unterschiede, behandelt sie alle ähnlich faszinierend und gleich.
“Ich hob meinen Arm und winkte. Dann ließ ich ihn wieder sinken. Nach einer Weile – seltsam zeitversetzt, als ob mein Gruß auf der Oberfläche der Wiese erst durch Tausende Seelen hindurchwandern musste – winkten sie zurück.
Ich löschte das Licht meiner Taschenlampe, und wir verschwanden in der Dunkelheit.”
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Leonhard Hieronymi – In zwangloser Gesellschaft.
Hoffmann und Campe.
240 Seiten. 24 Euro. Hardcover.
__weitere Werke des Autors:
Ultraromantik. Korbinian Verlag.
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