Von Leonard Hieronymis eigenwilligen Roadtrip In zwangloser Gesellschaft und den Gedanken über das was am Ende übrig bleibt, komme ich nun zu einem anderen Roman in dem es auch um das Reisen geht oder eher um die Vergänglichkeit, die Bindungen zwischen Menschen, sowie ihre Erinnerungen und die Zeitgeschichte der Bahn. Der Roman Was dir bleibt von Jocelyne Saucier nimmt seine Leser*innen mit auf eine ganz besondere Reise.
“Das halblange, schneeweiße Haar, der Dreiviertelmantel, genauer gesagt eine Steppjacke, die ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel reichte, und der Einkaufsbeutel, ihr einziges Gepäckstück. Eine alte Frau, […] sie lehnte an der Bahnhofsmauer, völlig reglos, mit nach innen gekehrtem Blick, wartete auf den Zug und schien gleichzeitig auch nicht darauf zu warten. >Worauf wartete sie in Wirklichkeit? Dass der Zug durchfuhr und sie auf dem Bahnsteig stehen ließ? Oder war sie schon längst unterwegs?…<“
An diesem Roman liebe ich die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und (Irr-)Wege der einzelnen Protagonisten, denn im Grunde ist dieses Buch nicht nur ein Buch. Saucier spricht in Was dir bleibt über das sich wandelnde Zeitalter und die Bahngeschichte in Kanada, wir begleiten einzelne Protagonisten auf dem Weg zur (Selbst-)Akzeptanz und Findung ihrer Freiheit, sie thematisiert den Abschied, den Tod und erzählt eine ganz besondere Freundschaftsgeschichte.
Gladys ist 76 Jahre alt und steigt eines Tages, ohne einen der Nachbarn oder Bekannten vorher informiert zu haben, in den Northlander-Zug und verschwindet. Und als wäre das nicht schon Aufregung genug, überlässt sie ihre sehr eigenwillige, kranke und sich nach dem Tod sehnende Tochter sich selbst und begibt sich auf eine Zugreise, die sie an die verschiedenen, mit Schienen verbundenen Orte Kanadas führt. Die recht gebrechliche Frau besucht ehemalige Freundinnen aus ihrer Kindheit und dem school train, lernt neue Menschen kennen, lässt Erinnerungen noch einmal neu aufleben und bleibt vor allem eins, ständig auf Achse. Doch was genau hat sie vor? Nach und nach kommen Gladys’ Freunde und somit auch die Leser*innen hinter ihr großes Geheimnis und damit trifft die Geschichte dann auch mitten ins Herz.
Das Abenteuer dieser kleinen, gebrechlichen Frau aus Swastika wird von dem Englischlehrer und Sohn eines Eisenbahners berichtet. Zunächst noch recht außenstehend und bemüht der Eisenbahngesellschaft VIA Rail einen Grund zu liefern, dass der Betrieb des Transcontinental nicht, wie geplant und wie die meisten Züge des Nordens, eingestellt wird, wird er mehr und mehr zu einem Teil dieser Geschichte. Er begibt sich auf Spurensuche, trifft Freunde, reist Gladys hinterher und… ach, das müsst ihr schon noch selbst herausfinden. 😉
“>Die Gleise waren unser Leben<, diesen Satz hörte ich immer wieder, ein nostalgisches Leitmotiv, vorgetragen von den heiseren Stimmen alter Menschen, und dadurch verstand ich auch jenen anderen Satz, der mir ebenfalls regelmäßig zu Ohren kam: >Gladys ist ein Kind der Schienen.<“
Dieser Roman gleicht einem Streckennetz, das Menschen in ihren verschiedenen Stadien des Lebens zusammenführt, zeitweise begleitet, unzertrennlich werden lässt und mit der nächsten Weiche wieder alles in andere Richtungen lenkt. Und obwohl die Geschichte sich im Jahre 2012 zugetragen haben soll, Iphones auftauchen und die erneute Diskussion über den kleinen Ort Swastika, dem Hakenkreuz, und ihrem Hang zu eben jenem Symbol eine Rolle spielt, so hat man doch stets das Gefühl Jahrzehnte in der Zeit zurückzureisen. Die letzten Bahnfahrten mit unregelmäßigen und teilweise gar im Schneckentempo fahrenden Waggons, bei denen Menschen neben der Schiene campieren, teilweise Tage auf die Bahn warten oder Lagerfeuer anzünden um auf sich aufmerksam zu machen oder Gladys Erzählungen über ihre Kindheit und die school trains vermitteln in unseren Breiten eher ein Bild von den Anfängen des Bahn- und Personenverkehrs und geben der Geschichte einen abenteuerlichen Touch. Die Figuren sind, wie in allen Romanen Sauciers, einfach nur toll und einzigartig, warm und herzlich. Ihre Geschichten sind jedes Mal in irgendeiner Art und Weise von Begegnungen und Zusammenhalt geprägt, auch Verlust und Abschied tauchen als Themen immer wieder auf und doch ist jedes Buch und jede Geschichte einmalig. Während Ein Leben mehr in den Wäldern und Niemals ohne sie in einer ehemaligen Bergbauregion und einem aussterbenden Dorf spielen, zeichnen hier die Bahn und die etwas außenstehende Berichterstattung und Spurensuche des Protagonisten diesen Roman aus. Teilweise ist es leider dadurch etwas holperig, einzelne Informationen wiederholen sich in recht kurzen Zeitabständen oder es kommen nur schrittweise neue Informationen über den Verbleib und die Reise Gladys’ hinzu. Auch der Einstieg gestaltet sich nicht gerade einfach und die Wirkung der Geschichte braucht sehr viel Zeit. Menschen, die von einem aufregenden Abenteuer lesen wollen, werden wahrscheinlich nicht weit kommen und auch ich hatte anfangs einige Schwierigkeiten dran zu bleiben. Da ich jedoch Sauciers vorherige Bücher gelesen habe und mehr über den Grund der Reise herausfinden wollte, habe ich mich langsam vorgearbeitet, bis dann ab etwa der Hälfte der Knoten geplatzt ist, der eigentliche Hintergrund zutage kommt und dadurch alles noch einmal emotionaler aufgeladen und das Lesen deutlich interessanter wird. Vom Gefühl her kommt dieses Buch zwar nicht an Sauciers ersten übersetzten Roman Ein Leben mehr heran und doch hat mir (ohne nun noch weiter ins Detail gehen zu wollen und alles vorweg zu nehmen, denn viel geschieht in diesem Roman wirklich nicht) der Umgang mit den großen Themen des Lebens und darüber hinaus in diesem Buch sehr gefallen. Diese Geschichte und vor allem Gladys werden mich wahrscheinlich noch eine ganze Weile lang begleiten und das ist dann schon etwas ganz besonderes.
“Wer alles erklären will, dem entgeht viel. Ich versuche nicht mehr, die Mauern zu überwinden, die vor mir aufragen. Die Wahrheit verbirgt sich in den Rissen, und von denen halte ich mich lieber fern. All die Seiten, die ich vollgeschrieben habe, lasten auf mir. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, sie auszudrucken Das Papier würde ihnen eine Realität verleihen, der ich nicht entkommen könnte.”
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Jocelyne Saucier – Was dir bleibt.
Aus dem Französischen von Sonja Finck und Frank Weigand.
Insel Verlag.
253 Seiten. 22 Euro. Hardcover.
___weitere Bücher der Autorin
Ein Leben mehr. Roman. Insel Verlag. 2017.
Niemals ohne sie. Roman. Insel Verlag. 2019.
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