Roman | “Zugvögel” – eine Geschichte wie das aufbrausende Meer

Stellen wir uns doch einmal vor, wir schrauben etwas an der Zeit und landen nun etwa 10, 20 oder vielleicht, wenn wir Glück haben sogar 50 bis 100 Jahre in der Zukunft. Der Klimawandel zeigt bereits größere Auswirkungen, die Meere sind total überfischt, viele Tierarten sind bereits ausgestorben und auch die Vögel werden beinahe zu einer Seltenheit.
Natürlich gibt es hier und da auch noch ein paar Versuche die Welt, das Klima und die Tiere zu retten, aber alles gestaltet sich in allem bereits sehr viel schwieriger.

So wäre nun ungefähr die Ausgangslage von Charlotte McConaghys neuen Roman Zugvögel. Franny Lynch ist am Rande der Arktis auf die wahrscheinlich letzten Exemplare der Küstenseeschwalbe gestoßen. Ausgerechnet die Vogelart, die die weitesten Wege in ihrem Leben zurücklegt, hat es irgendwie geschafft bis jetzt zu überleben, aber wer weiß wie lange noch. Ausgestattet mit einigen GPS-Trackern möchte die Ornithologin ihnen nun auf ihrer wahrscheinlich letzten Reise über das Meer in Richtung Antarktis folgen. Auf Grönland heuert sie dafür mit ein bisschen Glück auf einem der Saghani, einem der letzten Fischerboote, an. Sie will die Crew gemeinsam mit den Vögeln zu den letzten größeren Fischvorkommen des Atlantiks führen. Der letzte goldene Fang, bevor auch dieses Schiff in den Ruhestand gehen muss. Es beginnt eine sehr abenteuerliche Reise, die nicht nur den Küstenseeschwalben folgt, sondern auch die Vergangenheit erneut an Deck spült. Kapitän Malone und seine doch recht eigenwillige Crew bemerken schnell, dass hinter den eigentlichen Plänen der Ornithologin noch ganz andere Geheimnisse stecken müssen. Albträume suchen Franny heim, sie schlafwandelt wieder und schreibt Briefe an ihren Mann, die sie scheinbar niemals abschickt. Aber nicht nur sie scheint ein großes Laster mit sich herum zu schleppen, auch die Mannschaft. Mit jeder weiteren Welle, jedem Sturm, jedem einzelnen Gespräch bröckelt die Fassade und ganz langsam gewinnt die Hoffnung, dass sie ankommen und alles irgendwie noch ein gutes Ende nehmen wird…

“Woher wissen sie, wohin sie fliegen müssen? Warum fliegen sie überhaupt so weit? Warum sind sie die Letzten, ausgerechnet sie, was macht sie zu den Glücklichen und andere nicht? Eigentlich kann ich das nicht beantworten, aber ich tue mein Bestes, und außerdem wollen sie sowieso keine Antworten, sie erinnern sich nur wieder daran, wie es ist, ein Lebewesen zu lieben, das kein Mensch ist. Ein namenloser Kummer, dieses Dahinschwinden der Vögel. Das Dahinschwinden aller Tiere. Wie einsam es hier werden wird, wenn nur noch wir da sind!”

Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht wo ich anfangen soll, dieses Buch hat so viel in mir ausgelöst, mich begeistert, berührt, zum Nachdenken gebracht, die Welt und ihre Mächtigen angeklagt, die Endlichkeit des Lebens thematisiert, die Zukunft, das was von uns übrig bleibt und und und. Für mich ist es einfach ein großartiges Buch und wahrscheinlich auch eins meiner liebsten in diesem Jahr bzw. vielleicht sogar in meinem ganzen Regal. McConaghhy lässt sich mit ihrem Roman so grob zwischen Lunde, spannendem Kathastrophenfilm über die Unberechenbarkeit und Veränderung der Welt, Strelecky und philosophischen Lebensratgebern, sowie Tierdokumentation, Drama und Befreiungsschlag einordnen. Also insgesamt eine bunte Mischung an Themen, die dem Leser am Ende sehr viel über das Leben selbst und die Veränderung der Welt vermitteln können. Charlotte McConaghy hat sich mit Franny Lynch an einer Protagonistin bedient, die zwischen Gut und Böse steht; zwischen verzweifelt, lebensbejahend, aufgebend und ferngesteuert schwankt. Manchmal ist sie dabei sehr feinfühlig, später wieder impulsiv und draufgängerisch oder so voller Zweifel und Gedanken. Diese Auf und Abs auf den verschiedenen Etappen ihre (Lebens-)Reise machen sie so nahbar und diese Ereignisse in Kombination mit der rauen Natur sehr aufwühlend und emotional mitreißend.

“Von mir wird nichts bleiben, wenn ich gehe. Keine Kinder, die meine Gene weitertragen. Kein Kunstwerk, das meinen Namen im Gedächtnis hält, nichts Niedergeschriebenes, keine großartigen Taten. Ich denke an die Wirkung, die so ein Leben hat. Es hört sich still an und so klein, dass es fast unsichtbar erscheint. Es hört sich an wie der unerforschte, nie gesehene Point Nemo.”

… ist zum Beispiel einer der vielen Gedanken, die mir in dem Buch begegnet und sehr nahe gegangen sind. Vielleicht ähneln Franny und ich uns zu einem Teil oder wir sind uns bewusst, dass einfach nichts wieder so unbeschwert und einfach sein wird wie früher. Und Corona hat mir eigentlich auch in der letzten Zeit wieder bewiesen, dass in dem großen Mächtesystem es gar nicht um die Natur, den Menschen als Einzelnen oder gemeinschaftliche Gruppe geht, sondern irgendwie immer das Wirtschaftswachstum im Vordergrund steht. Was bedeutet so ein einzelnes Leben schon, wenn man nichts hinterlassen kann, außer der Tatsache, dass man gelebt hat, ein kleiner Hilfsarbeiter für die Wirtschaft war und mithilft das zu zerstören, dass das eigene Leben überhaupt möglich gemacht hat? Die Natur kann so viel und sie verändert sich, versucht mit unserem egozentrischen Einfluss klar zu kommen und sich anzupassen, doch um welchen Preis? Wahrscheinlich werden wir diese komplexen Zusammenhänge der Flora, Fauna, Geologie und Meteorologie oder gar den Mensch selbst nie verstehen und doch sind wir gewillt, immer mehr Lebensmittel zu produzieren, Insekten zu vertreiben, Flächen zu roden, chemisch Einfluss zu nehmen. Durch dieses Buch und gerade durch die Geschichte über die Küstenseeschwalben und die geschilderte Reise über den Atlantik wird einem dieses zerbrechliche Gefüge der Welt, ohne große Heulszenarien über das ‘bedrohte’ Leben des Menschen, wieder bewusst und irgendwie schwingt da dann auch der Respekt vor der Welt, der Natur an sich und dem Meer mit. Ich könnte nun noch mehr zu den Themen Zusammenhalt, Endlichkeit, Träume, Wünsche, Leben… erzählen, aber ich denke ihr könnt euch auch einfach selbst ein Bild machen. “Zugvögel” hat zumindest bei mir einen Nerv getroffen und trotz dieser gewissen Hilflosigkeit und Herausforderung auch ein Stück weit wie Balsam gewirkt. Und jetzt bleibt mir dann tatsächlich nur noch eins zu sagen: Lest dieses Buch, lernt Franny kennen und begleitet sie auf ihrer waghalsigen Reise durch die Welt und lernt die Natur mehr zu schätzen, noch ist alles möglich!

“Früher war diese Welt ein anderer Ort […] Früher gab es Lebewesen im Meer, die so wundersam waren, als wären se direkt der Phantasie entsprungen. Es gab Geschöpfe, die über die Steppe setzten und durch das hohe Gras pirschten, Geschöpfe, die durch die Wipfel der Bäume sprangen, die es auch noch in Hülle und Fülle gab. Früher gab es prächtige Flügelwesen, die den Himmel bevölkerten und die jetzt verschwinden. […] Dabei verschwinden sie gar nicht. […] Sie werden gewaltsam und unterschiedslos von unserer Gleichgültigkeit hingemetzelt. Unsere Machthaber sind zu dem Schluss gekommen, dass Wirtschaftswachstum wichtiger ist. Das Artensterben erscheint ihnen als akzeptabler Preis für ihre Habgier.”

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Charlotte McConaghy – Zugvögel.
Aus dem Englischen von Tanja Handels.
S.Fischer Verlag.
400 Seiten. 22 Euro. Hardcover.

26. August 2020

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