Philosophie | Über den Sinn der Existenz – Jessie Greengrass und ihr Roman “Was wir voneinander wissen”

Manchmal ist es so ein bisschen schade, dass eine Rezension kein Gespräch und so in sich abgeschlossen ist, denn über dieses Buch könnte man wahrscheinlich stundenlang philosophieren, recherchieren oder gar in andere Gedankenwelten eintauchen und über noch zahlreiche andere Bücher sprechen. Jessie Greengrass begleitete mich mit ihrem Roman Was wir voneinander wissen nun mehrere Monate voller Gedanken und Selbstreflektion und reiht sich damit thematisch zwischen den bereits von mir gelesenen Romanen Die Empathie-Tests von Leslie Jamisons, Nüchtern & Zuhause von Daniel Schreiber, sowie Valerie Fritschs Herzklappen von Johnson & Johnson ein.

“Mein Vater verschwand, als ich noch klein war und hinterließ so gut wie nichts, meine Mutter starb als ich Anfang zwanzig war, und ihr Tod verstörte mich dermaßen, dass ich meine Trauer monatelang nicht erkannte und das mich umhüllende Leichentuch der Anhedonie fälschlicherweise als Zeichen des endlich eingetretenen Erwachsenseins verstand: die Erkenntnis, dass die Welt nichts anderes war als das, was sie zu sein scheint, eine feste Oberfläche im kalten Licht.”

Dies sind die Gedanken einer Frau, die mit nichts und niemandem mehr verbunden zu sein scheint. Sie lebt in einer Welt in der sie die Bedeutung der Existenz sucht, mit sich und ihrer Schwangerschaft hadert, verängstigt vor deren Folgen ist und Sorge hat, dem allen nicht gerecht zu werden. Sie versucht Antworten zu finden, durchsucht die Geschichte nach bekannten Persönlichkeiten, die sich dem Menschen zuwandten, streift die zentralen Fragen des Lebens bis hin zum Tod und lässt auch einen sehr intimen Blick auf ihr eigenes Leben, ihre Kindheit und ihre Beziehung zur Mutter, Großmutter und ihrem Vater, sowie ihrem Partner und Kind, zu.

The Guardian sagt: “Es gibt Anklänge an Sebald und Cusk in diesem nachdenklichen, abschweifenden Stil, der das Historische mit dem Persönlichen verwebt, aber Greengrass’ suchender Intellekt und ihre elegante Prosa sind ihr zutiefst eigen.” Und das merkt man tatsächlich auch bei jeder Seite, jedem einzelnen Satz. Ich würde nun lügen, wenn ich sagen würde, dass es sich um ein einfaches Buch handelt. Vier Monate Lesezeit bei 220 Seiten sprechen eigentlich schon für sich und doch schwanke ich hier zwischen großer Faszination, Verwirrung und Begeisterung. Jessie Greengrass hat einen Roman über den Menschen und das Leben aus Sicht ihrer Protagonistin verfasst. Wobei Roman ist vielleicht das falsche Wort, denn so wirklich unterhaltend und stringent ist dieses Buch nicht. Es ist eher eine Mischung aus Philosophie, tiefgründigen Lebensgedanken und der Suche nach dem, was alles erklären mag. Die Autorin wechselt hier zwischen einzelnen Gedanken, Ängsten und Sehnsüchten ihrer Protagonistin, Ereignissen mit deren Mann, ihrer Mutter und Großmutter, sowie historischen Persönlichkeiten, die sich mit der Erforschung des Menschen und dem anfänglichen Verständnis für das Innerste des menschlichen Universums interessierten. Conrad Röntgen und seine Entdeckung der X-Strahlen, Anna und Sigmund Freud mit der Psychoanalyse und John Hunter und seine Leidenschaft für Anatomie. Sie alle haben für die heutige Medizin und Wissenschaft einiges geleistet und den Grundstein für viele weitere Entwicklungen und Verständnis-/Verhaltenstheorien gelegt. Gerade diese Rückblicke innerhalb der Gedanken der Ich-Erzählerin haben mich sehr begeistert. Greengrass schildert so, neben Röntgens ersten bildhaften Blicken unter die Haut, die erste Form der Schnittentbindung, die unter dem damaligen Zuständen natürlich tödlich ausging. Dennoch entwickelte Hunter einen gewissen Ehrgeiz und das machte ihn mit seiner riesigen Sammlung an menschlichen und tierischen Präparaten zum Begründer der experimentellen wissenschaftlichen Chirurgie. Von Sigmund Freud kann man natürlich halten was man will, ich persönlich komme so langsam an den Punkt, wo ich von ihm nichts mehr hören mag, aber er hat in dem Bereich der menschlichen Psyche eben große Fortschritte gemacht und mit seiner Form der Psychoanalyse sehr viele wissenschaftliche Diskurse ausgelöst. Inhaltlich passt Freud absolut rein, zumal die Protagonistin gerade ihre Beziehung zu ihrer Großmutter beschreibt, die sie stets nur mit Doktor K ansprechen durfte.

Desweiteren dreht sich vieles bei den Gedankenansätzen der Protagonistin um Vertrauen, die bevorstehende Geburt, das neue Leben, das entsteht, gleichzeitig fasziniert und Ängste hervorruft. Es sind eher die elementaren Fragen des Lebens, auf die die Frau an einem Wendepunkt ihres irdischen Daseins nach Antworten sucht und sich dabei zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft bewegt.

“Wie einfach alles wäre, wenn ich mich oder andere kennen würde; wenn ich nur vor einem Schirm treten und mich durchleuchten lassen müsste, um zu erkennen, was mich im Innersten zusammenhält, diese verborgenen Strukturen, die Knochen, die Gelenke, die dem Rest die Form verleihen – dann wüsste ich endlich mit Sicherheit, dass ich lebe und irgendwann sterbe…”

Alles in allem ist es ein tiefgründiges, kluges Konglomerat, das den Leser nicht nur sprachlich fordert und begeistern kann, sondern auch inhaltlich sehr viele Gedankenanstöße und historische Bezüge über das menschliche Sein liefert. Sicherlich ist es kein Buch für jeden und vielleicht stellen für den ein oder anderen auch die geschilderten Beobachtungen und Gedankengänge der Protagonistin einige Hürden dar, aber in dieser Form fand ich diesen Roman absolut lohnenswert, wenn auch ein klein wenig herausfordernd.

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Jessie Greengrass – Was wir voneinander wissen.
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien.
Kiepenheuer & Witsch.
220 Seiten. 20 Euro. Hardcover.

4. September 2020

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