Die Geschichte meiner Heimatstadt | Florian Huber und Verena Keßler über die Gespenster/Geister von Demmin

Wenn man sich an solch ein geschichtliches Thema herantraut und dann auch noch der Name der eigenen Heimatstadt im Titel auftaucht, sind die Erwartungen entsprechend hoch. Man möchte etwas Neues über damals erfahren, der Autor/die Autorin sollte irgendwie den eigenen Eindruck von der Stadt und das dortige Leben transportieren und natürlich alles in eine sehr ansprechende Geschichte verpacken. Meines Wissens gibt es bisher zwei Romane bzw. Bücher, die sich mit der Zeit während/nach dem Zweiten Weltkrieg in Demmin beschäftigen.

Kind versprich mir, dass du dich erschießt: Der Untergang der kleinen Leute 1945 von Florian Huber erzählt sehr eindrucksvoll und erschütternd von dem Massensuizid, der nach sich nach dem Tod Adolf Hitlers in sehr vielen Teilen Deutschlands vollzog und mit unter die kleine Hansestadt im Norden bis heute sehr bekannt machte. Jedes Jahr, am 8.Mai ziehen die Rechten vom Bahnhof, über die Hauptstraße bis zur Peene und werfen dort einen Kranz hinein, um den Sebstmördern, Verzweifelten und überzeugten Nationalsozialisten zu gedenken. Vielleicht wäre es damals dort alles gar nicht so weit gekommen, hätte man nicht aus Angst vor der roten Armee die Brücken der Stadt gesprengt. Zumindest hätten sich die Menschen dann nicht wie in einer Falle sitzend und aufs Unheil wartend, gefühlt. Hunderte bis Tausende (so genau weiß man das leider nicht) haben sich damals vergiftet, erhängt oder sich mit schweren Gegenständen bestückt, in die Peene geworfen und sind ertrunken. Das Massengrab und auch die Gräber zahlreicher Opfer der Weltkriege auf dem evangelischen Friedhof, sowie der abgelegene jüdische Friedhof und zahlreiche Denkmäler erinnern mahnend an die damaligen Grausamkeiten.

Was nun davon übrig geblieben ist und wie weit das bis heute die Region bzw. die Stadt prägt, sieht man ‘außerhalb’ vielleicht schon daran, dass gerade in den östlichen Regionen Deutschlands lange die NPD und eben jetzt auch ihre Ableger sehr präsent sind. Es ist aber auch ein gewisses Gefühl, die Erinnerung und ein Stück weit auch die Verlassenheit und die Trauer, sowie die Sorge vernachlässigt und wieder ‘im Stich gelassen zu werden’, die sich damit verbinden lässt. Was Florian Huber nun sehr aufwühlend und eindrucksvoll veranschaulicht, kann man natürlich auch noch einmal anders betrachten. Etwas fiktiver und weniger tiefgründig vielleicht, vielleicht aber auch einfach mehr als Erinnerung und weniger als Tatsache. Was ist aus der einstig sehr wichtigen Hansestadt geworden? Wie geht es den Überlebenden? Und wie gehen sie mit der Vergangenheit um?


Verena Keßler stellt sich nun ähnliche Fragen und hat sich Demmin als Schauplatz für ihren Debütroman ausgesucht. In Die Gespenster von Demmin geht es eher um das Heute und das, was gerade die Überlebenden nach wie vor mit dem Massenmord verbinden, ihre unterschwellig und ständig präsenten Ängste, aber auch welche Faszination das damalige Geschehen und der “Krieg” auf eine jüngere Generation ausübt.

“Was wissen die von Stau, denkt sie, was wissen die vom Nichtwegkommen, von Panzern auf den Straßen, von gesprengten Brücken. Im Wasser trieben leblose Körper, am Ufer lagen die Schwäne, man hatte sie erschossen. Sie blieben nicht stehen, liefen weiter, Richtung Hafen, Richtung Brücke, als sei die Explosion wenige Stunden zuvor ein Irrtum gewesen.”

Der Roman handelt von der fünfzehnjährigen Larissa oder Larry, wie sie gerne genannt werden möchte und ihrem Traum Kriegsreporterin zu werden. Sie braucht nämlich endlich mal Abwechslung und ein Abenteuer. Sie findet Kriege schon lange faszinierend, hilft auf dem städtischen Friedhof aus, interessiert sich für Foltermethoden und auch die Geschichte ihrer Heimatstadt Demmin lässt sie einfach nicht los. Demmin ist geschichtlich gesehen ein recht trauriger Ort, in dem sich nach dem zweiten Weltkrieg viele Menschen aus Angst vor der Zukunft in den Tod stürzten. Und während Larry versucht sich zu finden und ihren Weg zu gehen, schleppt ausgerechnet ihre Mutter auch noch einen neuen Typen an, der ihr dann auch noch helfen soll, die tragischen Erinnerungen an die Vergangenheit zu beseitigen. Doch nicht nur ihre Familie hat mit dem Erlebten zu kämpfen, auch ihre Nachbarin von gegenüber. Die ältere Dame soll demnächst ins Seniorenheim ziehen. Die Zeit drängt und sie muss sich von all ihren Habseligkeiten trennen, allerdings kehren mit dem Aussortieren auch zahlreiche verdrängte Erinnerungen an das Kriegsende wieder zurück und verfolgen sie bis tief in die Nacht.

Trotz dieses eher gewaltigen Themas ist es insgesamt ein locker und leicht erzählender Roman. Verena Keßler versucht Fakten der Vergangenheit mit dem Leben und den Gedanken ihrer jungen Protagonistin und zusätzliche Verbindungen zu damals in Form der Nachbarinnen zu verknüpfen. Und ich wollte dieses Buch wirklich mögen, zumal Demmin ja auch meine Heimatstadt ist und gerade das Geschichtliche mich fasziniert und traurig macht und irgendwie dann doch sehr selten thematisiert wird. Demmin war früher eine sehr bedeutsame Stadt und verkommt gefühlt immer mehr. Dieses Buch hätte für mehr Aufmerksamkeit für diese kleine Stadt und die schwerwiegende Vergangenheit sorgen können, aber über die gewählte Darstellung bin ich dann doch eher enttäuscht, als wirklich begeistert.

Einerseits war es für mich toll Larry bei ihren Streifzügen durch Demmin oder durch den Supermarkt zu folgen. Allerdings können andere vielleicht weniger mit Begriffen wie Schwanenteich, Netto, Goldener Drache, Marienhain und Co etwas anfangen, aber das ist gar nicht mal so schlimm. Andererseits und was mich eher störte waren so Aussagen wie: “Demmin ist im Dunkeln nicht grade Disneyland. Im Hellen natürlich auch nicht, aber da sind wenigstens noch ein paar Leute unterwegs, und die Geschäfte haben auf, und es fahren Autos.” oder “Wenn ich manchmal durch Demmin laufe, und da stehen Männer am Fenster, […] und die schauen einfach auf die Straße, als ob das ihr Hobby wär oder so, da krieg ich Angst. Ich denk dann immer, dass ich jetzt eigentlich was Krasses machen möchte, vors Auto rennen oder randalieren […] damit die wenigstens irgendwas Interessantes gesehen haben an diesem Tag.” oder “…glücklich war auch keiner, aber wer ist in dieser Stadt schon glücklich.” Auch, dass dieser Roman den Eindruck erweckt, als gäbe es in Demmin für viele kein anderes Thema, als den Tod, den Weltkrieg und die Leichen im Fluss. Und auch wenn ich das irgendwie ausblende, habe ich am Ende das gewisse Etwas, einen Mehrwert, vermisst. Es ist eine nette Geschichte über die Verrücktheiten, Irrungen und Wirrungen eines jungen Mädchens, mit meiner Heimatstadt als Schauplatz, mehr dann irgendwie auch nicht.


Ansonsten muss ich dann leider auch sagen, dass es mir insgesamt einfach zu viel war, einmal die Geschichten der Nachbarn, dann die Erzählungen über damals, Larrys Beziehung zu ihrer Freundin und Timo, ihre Experimente, ihr Fluchtversuch, ihre Mutter und der neue Freund usw. usw. Dieses Gemenge macht diesen Roman zwar nicht langweilig, aber Keßler greift damit nicht einmal irgendetwas wirklich intensiv auf. Und dann liest man auf der Rückseite Zitate, wie z.B. “Ein mitreißender Roman, dessen todesverliebter wie lebenssehnsüchtiger junger Heldin man wünscht, dass sie eines Tages erlöst wird – so wie Verena Keßler die Gespenster von Demmin erlöst, die toten wie die lebenden” oder “Verena Keßlers Roman brummt nur so vor Lebendigkeit. Traurig, witzig, abgründig – Bombe!”… Nun ja, wenn man komisch Zusammengesetztes mag, vielleicht. Aber nicht nur das, vieles ist einfach recht fraglich… Es taucht in diesem Roman ein Schwan auf, warum? Er hat für mich keinen Sinn gemacht. Ähnlich, wie der plötzlich aufgetauchte Syrer oder die scheinbar wechselnde Jahreszeit, denn wo gerade noch Schnee und Frost herrschen, ist harken, in ausgehobenen Gräbern liegen oder von Bäumen hängen nach wie vor möglich. Es springt mir alles viel zu viel und ich frage mich nach wie vor, warum gerade dafür “Demmin” im Titel erwähnt werden muss. Die Geschichte könnte überall spielen und nicht Disneyland zu sein, ist dann doch irgendwie keine große Kunst.

Ich könnte nun wahrscheinlich zu jedem meiner 41 Post-its noch irgendetwas sagen, aber ich fürchte, dass dann am Ende nur noch sehr wenig übrig bleiben würde. Ich habe dieses Buch innerhalb weniger Stunden verschlungen und es hat mich irgendwie gut unterhalten, nur meine Erwartungen wurde in diesem Fall inhaltlich nicht erfüllt und ich habe mich (wie man vielleicht merkt) hier und da kurz aufgeregt. Aber macht es das schon zu einem blöden Roman?. Ich liebe den Einstieg bzw. die halbe Seite über die Peene und es hat mich ja auch gefordert und ‘festgehalten’, aber für das was es transportiert bräuchte ich es nun nicht unbedingt.

Übigens… Was ich nun noch sehr interessant fand ist, dass Keßlers aufgegriffene Veranschaulichungen, was die Bilder über die ertrunkenen Toten, die Aufzeichnungen sowie die Gräber betrifft, großteils auch in Hubers Buch bzw. in dem Kapitel “Die Geister von Demmin” auftauchen. Faktisch gesehen gibt es bei beiden sehr große Parallelen und so muss man dann, sofern einen das Thema interessiert, auch unterscheiden, ob man nun lieber mehr über die Zeit, das Grauen und dessen Folgen lesen möchte und damit eine historisch fundierte und wirklich gut recherchierte Erzählung oder eher diese fiktive, berieselnde Geschichte, die zwar vieles anreißt, aber auch nichts so wirklich behandelt und eher unterhaltend von einer Jugendlichen erzählt, die sich über einiges von damals Gedanken macht, über den Krieg berichten möchte und dabei alles und nichts werden möchte. Am Ende liegt es nun am Leser selbst und ich glaube, ich mag in diesem Fall eben eher ein Wissen vermittelndes Buch. Das ist alles.

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Verena Keßler – Die Gespenster von Demmin.
Hanser Berlin.
240 Seiten. 22 Euro. Hardcover.

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Florian Huber – Kind, versprich mir, dass du dich erschießt: Der Untergang der kleinen Leute 1945
Berlin Verlag.
304 Seiten. 22,99 Euro. Hardcover | bereits im Taschenbuch erschienen.

17. August 2020

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