Märchen sind mehr als nur Geschichten – Über ihre Wirkung und ihren therapeutischen Nutzen

Gerade zur Weihnachtszeit sind in Deutschland Märchen sehr beliebt. Verfilmt wurden gefühlt unzählige und gerade an den Adventssonntagen laufen diese auf den öffentlich rechtlichen TV-Sendern hoch und runter. Das beliebteste ist und bleibt natürlich “Drei Haselnüsse für Aschenbrödel” nach dem Vorbild des Märchens “Aschenputtel” der Gebrüder Grimm. Doch was macht gerade Märchen seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden so beliebt?

Märchen sind eigentlich Überlieferungen und Geschichten von Erlebnissen und Begegnungen, die sich stets über das Erzählen und Weitererzählen des Gehörten durch die Zeit getragen haben. Man kann sie gar als eine “repräsentative Sammlung archetypischer menschlicher Erfahrungen” sehen. Jeher dienen sie weltweit als eine Art lehrreiche Hoffnungsgeschichte, in der sich am Ende stets alles zum Guten wendet und vom Helden Ängste, Probleme, Sorgen überwunden werden. Natürlich gibt es nun je nach Ursprungsland eine etwas andere Fokussierung. Abendländische Märchenhelden werden so meistens gefordert und müssen auf eine gewisse Situation mit einer Handlung reagieren. Diese kostet sie sehr viel Mut, Kraft, Geschick oder auch List und lässt ihre Fähigkeiten neu aufblühen. Im Gegensatz dazu lehren orientalische Märchen eher Akzeptanz und Verständnis. Und gerade aufgrund dieser Vielfältigkeit gibt es beinahe auch für jede heutige Lebenslage eine passende Geschichte. Und wie sollte es anders sein, finden diese auch im bereich der (Psycho-)Therapie Anwendung. Die ungarische Märchenforscherin und Märchentherapeutin Ildikó Boldizsár schreibt Märchen eine heilende Wirkung zu. In ihrem Buch “Die Königin die unter dem Tisch saß und weinte” beschreibt sie mit konkreten Beispielen und den entsprechenden Märchen ihre Tätigkeit und Möglichkeiten der Auslegung und Wirkung. 2015 eröffnete sie das Zentrum für Märchentherapie und gilt als Begründerin der Story-Therapie-Methode Metamorphoses.

 

“… die Geschichte vom Aschenputtel hebe ich mir für Menschen auf, die in einer Situation feststecken, die durch Sichverstecken, Flucht und einen Mangel an Selbstvertrauen verursacht wird.”

 

Bei ihr kommen gezielt die unterschiedlichen Ausprägungen der Märchen zu tragen. Tiermärchen, Novellenmärchen, Schwankmächen, Zaubermärchen gibt es und je nach Auslegung und Interpretation haben alle einen therapeutischen Nutzen. Für beinahe jede Lebenssituation und Menschen gibt es ein passendes Märchen, das einem vielleicht den Ausweg aus der ganzen Misere oder dem Gedankengang zeigen kann. Natürlich nicht wortwörtlich, aber ein Märchen vermittelt sehr bildhaft und hoffnungsvolle Lösungen und Wege aus verzwickten Situationen, Wünschen und Träumen. Und ein jeder liebt Geschichten und hat sicherlich auch verschiedenste Erinnerungen an seine Kindheit, wo ihm Mama, Papa, Schwester … ein Märchen vorgelesen oder erzählt hat. Auch ich erinnere mich stets gerne zurück und sage auch noch heute nicht “nein” zu einer kleinen Geschichte. Wahrscheinlich hat daher auch dieses, vielleicht zunächst komisch angehauchte Buch, zu mir gefunden und mein Interesse geweckt. Und je mehr man sich mit dem Sinn der Märchen beschäftigt und der Tätigkeit Boldizsár, umso faszinierender wird dieses Buch.

 

“Das liegt daran, dass sich die Märchen nicht mit Symptomen beschäftigen, sondern mit den Wurzeln der Probleme.”

 

Was mir in diesem Fall sehr gefällt, ist die Aufteilung der einzelnen Kapitel. Nach einer kurzen Einführung bzw. Situationsbeschreibung folgt stets ein kurzes Märchen indischen, koreanischen, tungusischen, dänischen, deutschen … Ursprungs. Schon hier merkt man die enorme Vielfältigkeit und Herangehensweise, dass eine Geschichte viel mehr zu bieten hat als bloße Worte und Bilder. Danach geht es zunächst um die objektive Deutung des Märchens und warum es für die Lösung von Ängste, Krisen, Unentschlossenheit, familiären Störungen, Krankheit oder gar Trauer das richtige Hilfsmittel darstellt. Nun folgt die subjektive Deutung und die Nacherzählung, wie es in der beschriebenen Situation dem Menschen/der Gruppe geholfen hat. Auch die Frage “Wie wird das Märchen ohne einen Therapeuten zu einer selbstheilenden Geschichte?” wird im Anschluss geklärt und eine neue Situation beginnt.
Auch wenn man bei diesem Buch nicht sonderlich von Spannung reden kann, bin ich mehr oder weniger durch die Seiten geflogen. Ich habe mich hin und wieder über ihre geschilderten Erfahrungen gefreut und versucht das beschriebene Märchen auch für mich zu deuten oder anhand ihrer Anleitung in den einzelnen Helden/Scheinhelden/Bösewichten gesehen und für meine Situation entsprechende Schauplätze ausgesucht. Obwohl ich häufig und gerade bei solchen Themen recht skeptisch bin, glaube ich wirklich, dass Märchen für viele eine Hilfestellung sein können. Und komischerweise kann ich beinahe noch jedes der 17 beinhalteten Märchen nacherzählen und deuten. Gut, bei Aschenputtel, Frau Holle oder den drei kleinen Schweinchen ist das nicht sonderlich überraschend, wobei Aschenputtel in der hier erzählten ursprünglichen Fassung einen etwas ‘härteren’ Verlauf hat.
Das bulgarische Tiermärchen “Es regnet Kiesel” ist mir dennoch irgendwie besonders im Gedächtnis geblieben. Hier geht es um das Überwinden von Ängsten, aber auch um das einfache Folgen und hinterherlaufen ohne etwas zu Hinterfragen und genau diese Aussage steht für mich für die heutige Gesellschaft, aber erinnert auch teilweise an mich selbst.
Jedenfalls ist “Die Königin, die unter dem Tisch saß und weinte” ein tolles Buch für jeden, der etwas mit Märchen anfangen kann und mal hinter die Bedeutung bzw. den eigentlichen Sinn solcher Geschichten blicken mag.

 

Ildikó Boldizsár- Die Königin, die unter dem Tisch saß und weinte
Aus dem Ungarischen von Eva Zador.
arkana.
368 Seiten. 20 Euro. Hardcover ohne Schutzumschlag.

//Leseexemplar//

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9. Dezember 2018

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