Einer spannenden Frage geht Samanta Schweblin in ihrem Roman Hundert Augen nach. Sie erzählt eine Geschichte in der die Welt von kleinen, plüschigen Robotern beobachtet, entdeckt, bevölkert, überwacht und infiltriert wird. Und das so ganz freiwillig, denn die sogenannten, furby-ähnlichen Kentukis werden von den Menschen weltweit gekauft, aktiviert und in ihr Leben gelassen. Für 279 Dollar kann man sich dieses neumodische Haustier in Form eines Maulwurfs, einer Eule, eines Drachen, eines Pandas, eines Kaninchens oder einer Krähe auf Rollen besorgen. Keins gleicht dabei dem anderen. Sie unterscheiden sich stets in der Farbe, dem Stoff oder haben wiederum andere, spezielle Merkmale. Pflegeleicht sind sie, denn sie benötigen nur Strom um sich aufzuladen und leisten dafür ihren Besitzern im Laufe des Tages hin und wieder Gesellschaft. Aber es gibt eben auch einen Haken oder einen Kick, je nachdem wie man es sehen will, denn hinter jedem Kentuki steckt auch ein Mensch, der sich, sofern er denn will, nach und nach in dem sich ihm präsentierten Leben einnistet. Eine eingebaute Sim-Karte ermöglicht dem kleinen Gefährten nämlich eine permanente 4G/LTE-Verbindung mit einem zentralen Server und damit auch mit einem anderen User irgendwo auf der Welt. Dieser kauft sich einmalig für 70 Dollar einen Aktivierungscode und wird dann zufällig mit einem neu in Benutzung genommenen Kentuki verbunden. Mit Hilfe einer Kamera kann er sich dann durch das Leben des Besitzers/ der Besitzerin bewegen, sie oder ihn hören, hin und wieder mal ein Geräusch von sich geben und eben beobachten. Jede Verbindung wird dabei nur einmal vergeben und bleibt solange aktiv, bis der Kentuki vergessen wurde aufzuladen oder ihm die Möglichkeit die Ladestation zu erreichen genommen wurde oder der User auf der anderen Seite die Verbindung trennt. So die Ausgangslage und so das Spiel. Wer willst du sein? Besitzer oder die Seele des kleinen Kentukis?
“Im schlimmsten Fall konnte er jemand sein, den sie kannte, der das aber nicht preisgab. Sie hingegen musste ihm ihr Leben offenlegen, wäre so transparent für ihn, wie sie es für diesen armen Kanarienvogel aus ihrer Kindheit gewesen war, dessen Käfig in der Mitte des Zimmers gehangen und der sie noch angeblickt hatte, als er starb” _Alina
Samanta Schweblin stellt nun in ihrem Roman verschiedene Szenarien vor. Wir lernen verschiedene Menschentypen kennen, die entweder einsam sind, etwas ausprobieren möchten, das Ganze einfach nur witzig finden oder in diesen Verbindungen das große Geschäft wittern. Die Gründe für die Benutzung dieses ‘Spielzeugs’ sind recht unterschiedlich und so auch die Ziele der einzelnen User. Es ist eine Art menschliches Experiment. So oder so merkt man jedoch recht schnell, dass die anfängliche Distanz und Hemmschwelle innerhalb kürzester Zeit sinkt, sich dieses ‘Ding’ zu einer Art Stalker entwickeln kann und sich durch die Neugier der User und stete Präsenz Menschlichkeit, Aufdringlichkeit und Horror vermischen. Ein bitteres Spiel, bei dem am Ende nur ganz wenige ‘gewinnen’ können.
“Er wusste, dieses Plüschtier war in Wirklichkeit kein Haustier, und er fragte sich, welche Art Mensch es wohl nötig hatte, so sehr für sie zu sorgen – ein Wittwer oder Rentner vielleicht, der nicht viel zutun hatte -, aber mehr noch fragte er sich, ob es nicht vielleicht etwas gab, mit dem er sich für die Fürsorglichkeit revanchieren konnte.” _Enzo, Vater, bei dem der Kentuki eine Art Co-Vater Rolle eingeht
Was ich nun besonders faszinierend finde, ist die Tatsache, dass diese Form der vernetzten Gegenwart in der Theorie schon heute möglich wäre, wahrscheinlich sogar eine sehr hohe Nachfrage erfahren und die beschriebenen Szenarien dann auch noch genau so eintreten würden. So klug, begeisternd, beängstigend und irgendwie auch brutal und perfide ist dieser Roman in dem dieses Spiel aus Macht und Überlegenheit, Neugier und Opferrolle, ständiger Vernetzung und Einsamkeit thematisiert wird. Schweblin wechselt dabei in den einzelnen Kapiteln zwischen ihren verschiedenen Protagonisten, zwischen den verschiedenen Menschen bzw. Charakteren, Zielen und eben auch Rollen. Sehr mitgenommen hat mich dabei ein recht kurzes Kapitel indem eine Mitarbeiterin eines Altenheims zwei Kentukis für ihre Bewohner gekauft hat. Innerhalb weniger Minuten wurde die Verbindung getrennt, das Haustier getötet. Ähnlich aufgewühlt hat mich dann auch die Frage nach dem sein oder haben Wollen. Würde man seine Privatsphäre für so ein Ding und einem User irgendwo auf der Welt einfach so aufgeben wollen? Was bringt einem diese Beobachtung und wie weit würde so ein User gehen? Wie viel Einblicke tun dem Menschen gut? Was macht Neugier und Macht aus uns? Schweblin liefert nun keine direkten Antworten, aber sie zeigt verschiedene Möglichkeiten in dem sich das Virtuelle mit der Realität mischt und das nicht gerade zum Positiven. Dieser Roman ist einfach ein sehr spannendes Gedankenexperiment und zugleich auch ein Weckruf. Sie zeigt sehr eindrucksvoll, was geschieht, wenn die Virtualität die Grenze der Privatsphäre überschreitet und damit auch wie unangenehm die vermeidliche Anonymität der User sein kann. Ähnlich wie bei Julia von Lucadous Roman “Die Hochhausspringerin” vereint Schweblin ein Hauch Utopie und eine doch sehr große, reale Möglichkeit und Frage der Macht und Zukunft. Mir hat dieses Buch sehr gefallen, allerdings habe ich hier und da so eine Art Spannungsbogen vermisst, etwas stark über die Stränge schlagendes, irgendetwas was die Gefahr der unvermeidlichen Gläsernheit stärker verdeutlicht, wobei man sich auch das gedanklich wahnsinnig gut vorstellen und weiterspinnen kann. Wer mal etwas anderes sucht und lesen möchte, vielleicht auch von der fortschreitenden Digitalisierung nicht ganz so begeistert ist oder eben gerade das faszinierend findet, der ist auf jeden Fall mit diesem Buch gut beraten. Ein tolles Gedankenspiel. Und ich glaube, ich würde dann lieber sein, als haben.
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Samanta Schweblin – Hundert Augen.
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis.
Suhrkamp.
252 Seiten. 22 Euro Hardcover.
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