Roman | “Verbrenn all meine Briefe” – eine ergreifende, wahre Liebesgeschichte, die beinahe eine ganze Familie spaltet und deren Wut Generationen überdauert

Ich bin ja kein großer Fan von Liebesromanen und hätte ich nur den Titel “Verbrenn all meine Briefe” gelesen, wäre dieser Roman wahrscheinlich auch an mir vorbei gegangen, aber Alex Schulman verbinde ich seit “Die Überlebenden” mit einer sehr starken, intensiven Geschichte und einer ganz besonderen Art des Erzählens, sodass ich diesem Buch zumindest eine Chance geben wollte. Ein Glück, denn was sich mir bot war kein einfacher, schnulziger Liebesroman, sondern die sehr aufwühlende und mitreißende Geschichte einer Frau, die ihr Leben nach ihrem narzisstischen und egomanischen Mann ausrichtete, sich neu verliebte, sich befreien wollte und doch gefangen blieb.

Ausgangspunkt dieses Romans ist allerdings ein ganz anderer. Eines Tages spürte Schulman ein gewisses, stetes Unbehagen, wenn seine Tochter etwas anstellte oder der Meinung war, ihrem Vater etwas nicht recht zu machen. Sie entschuldigte sich häufig, schreckte zurück oder hatte gar Angst vor ihm. Und auch seine Frau wies ihn hin und wieder auf seine wütenden Ausfälle hin, sie litt mehr oder weniger unter seinem Verhalten. Doch woher kommt diese Wut und Aggression, die seine Familie schon sein Generationen nicht mehr loslässt? Schulman begibt sich in Therapie und setzt sich mit seiner Familiengeschichte auseinander. Auffällig ist vor allem, dass väterlicherseits stets alles sehr harmonisch und ausgeglichen wirkt, aber die Beziehungen mütterlicherseits eher wie ein großes Schlachtfeld aus Trennungen, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, gar Hass daherkommen. Umso mehr er sich nun damit beschäftigt umso eher glaubt Schulman, dass sein Großvater, der bekannte Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und -kritiker, Übersetzer, Journalist… einer der gebildetsten Schweden Sven Stolpe Ausgangspunkt für alles ist.

“>Papas auffälligster Charakterzug war die Wut<, sagte Mama. >Er wollte leben und erscheinen wie ein guter Christ. Aber in Wahrheit war es kein Glaube und keine Ideologie, die ihn antrieb, sondern Wut.<
Aus unterschiedliche Weise zerstörte Stolpe das Leben seiner Kinder. Und das Gift wirkte über Generationen fort. Wir lernten alle, einander und die Welt zu hassen.”

Bei seiner Recherche – und da gibt es tatsächlich viel, denn von Sven Stolpe existieren sehr viele Romane, zwischen 1929 und 1959 erschienen ganze fünfzehn Stück, auch Briefe und andere Schriftstücke wurden eingelagert und aufbewahrt – kehrt Schulman immer wieder auf den Sommer 1932 zurück. Stolpe schreibt in seinen Memoiren über einen Sommer, in dem er “den Glauben an die Menschheit verlor”, auch seine plötzlich schicksalsschweren, sentimentalen Texte umschwirren immer eine ähnliche Situation und später heißt es “Im Sommer 1932 wurde ich Opfer eines sexuellen Attentats.” Das ist es also, ein Trauma, das sich seitdem seine Wege bahnt und anscheinend mehr mit seiner Großmutter Karin zutun hat, als ihm lieb ist. Doch was ist, wenn das Opfer, eigentlich der Täter der ganzen Misere ist? Denn Stolpe war es scheinbar, der seine Frau erpresste bei ihm zu bleiben und ihr damit drohte sich selbst, Katrin und ihre große Liebe, den ebenso bekannten Schriftsteller Olof Lagercrantz zu erschießen, sobald sie sich von ihm lossagt.

“Es scheint einen Punkt in Sven Stolpes Leben zu geben, an dem das Dunkle seinen Anfang nahm. Ein banaler Gedanke, kindisch sogar, aber mir gefällt die Idee, dass die dunkle Seite, die ich geerbt habe, von diesem Ereignis herrührt, das vor langer Zeit im Leben meines Großvaters stattgefunden hat.”

Und damit, mit dieser Faszination, beginnt eine sehr erdrückende und faszinierende Reise durch die Zeit. Schulman schafft es mit einer Kombination aus Tagebucheinträgen, Briefen, Rückblenden und eigenen Gedanken ein sehr persönliche und aufwühlende, sowie auf wahren Gegebenheiten beruhende Geschichte zu erzählen, die einen als Leser*in komplett in den Bann zieht. Teilweise war es für mich spannender als jeder Krimi, sodass ich das Buch kaum noch aus der Hand legen konnte. Ohne nun zu viel vorweg zu nehmen, ist es ein Roman, bei dem man schnell weiß, dass nichts auf ein Happy End hinausläuft und dennoch gibt es einige überraschende Wendungen, bei denen man immer noch hofft, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Ich habe dieses Buch auf so vielen Ebenen geliebt, bin durch die Zeilen und Zeiten gerast und stelle nun erneut fest, dass Schulman einfach ein großartiger Erzähler von menschlichen Abgründen, Traumata und deren Auswirkungen ist. Und das in einer Form, die nie niederschmetternd, aber sehr mitreißend und aufwühlend ist. Auch die Auseinandersetzung mit der Wut, seiner eigenen Geschichte und die Recherchearbeit, fand ich in diesem Fall wahnsinnig spannend. Für mich ein ganz besonderer Roman und ich freue mich schon jetzt darauf, dass diese erschütternde Geschichte bereits den Weg in die schwedischen Kinos geschafft hat und hoffe nun natürlich auch da auf eine eine deutsche Version.

“Ich habe Wut immer als etwas Offensichtliches, Physisches, Lautstarkes gedacht. Man brüllt und schreit, und die Menschen um einen herum bekommen Angst. So habe ich mich selbst nie gesehen. Ich bin meinen Kindern gegenüber nie laut geworden. Ich habe sie nie geschlagen, sie nicht einmal hart am Arm gefasst. Vielleicht hat es deshalb so lange gedauert, weil ich erst begreifen musste, dass es nicht so einfach ist, dass man gar nicht laut zu werden braucht, um jemanden Angst zu machen.”

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Alex Schulman – Verbrenn all meine Briefe.
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz.
dtv.
304 Seiten. 23 Euro. Hardcover.

21. Dezember 2022

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