Sinthujan Varatharajah - an alle orte, die hinter uns liegen

Essay | “an alle orte, die hinter uns liegen” – Kolonialismus und seine Auswirkungen, ein erschreckend omnipräsentes Bild, bis heute

Ein Satz der mich schon lange gedanklich begleitet, ist “Geschichte wird von Gewinnern geschrieben” oder eher gesagt von den Mächtigeren. Wenn icb an meinen Geschichtsunterricht zurückdenke, haben wir uns zwar mit den Anfängen der Menschheit, Ägypten, Rom, den Slaven, Städte- und Länderentwicklungen im europäischen Raum beschäftigt, mehrfach die deutschen Kriege anhand verschiedenster Quellen und Aufzeichnungen, Karten, sowie Filmsequenzen analysiert, Jahreszahlen auswendig gelernt, kurz die weitere Entwicklung, sowie die DDR-Geschichte gestreift und doch war das rückblickend alles sehr, sehr einseitig – sehr weiß, sehr deutsch. Gut, man wird ganze Jahrtausende nun nicht in zwei Wochenstunden einfach mal so abgrasen können und die chinesische Entwicklung betrifft uns hierzulande auch nicht wirklich, aber vielleicht hätte der Blick weit über die europäischen Grenzen hinaus und die Auseinandersetzung mit den globalen Ländereien, Konflikten und Kämpfen, sowie den Kolonialismus und die Schattenseiten unseres Treibens uns mehr Verständnis für andere Ansichten, Fluchtbewegungen, andere Kulturen und den Einfluss, den wir Europäer jeher auf die Welt nahmen und nehmen, gegeben. Wir neigen oft dazu unsere Welt, unseren Blick und unsere Werte auf die Welt zu übertragen, Monokulturisieren global, berauben ärmere Länder nach wie vor, statt sie zu unterstützen. Und auch wenn sich gerade durch die “Black Lives matter”-Bewegung in den letzten Jahren so einiges getan hat, uns ins Bewusstsein gerufen hat, dass es noch andere Geschichten, Minderheiten, massenhaft Vorurteile, Ungerechtigkeiten und Differenzen gibt, ist das noch lange nicht genug.

“Ich denke […], dass die Welt, auf der wir leben nicht nur eine Welt ist, sondern mehrere Welten beinhaltet, dass sich ein Ort im Vergleich zu einem anderen, wie auf einer komplett anderen Welt, einer völlig anderen Karte anfühlen kann. Ich denke daran, wie eine Erzählung von der anderen abweichen kann und auf eine andere Weltgeschichte, auf ein anderes Weltgefühl hindeuten kann.”

…sagt Sinthujan Varatharajah in an alle orte, die hinter uns liegen. Und gerade für den anderen Blick auf die Welt, fernab der weißen Sieger- und Machtvorstellung bin ich ihr*ihm sehr dankbar. Ein Foto, aufgenommen um 1991 im Tierpark Heilbrunn in München zeigt eine Mutter vor einem Elefantengehege mit drei Elefant*innen aus dem indischen und ostafrikanischen Raum. Es ist ein Bild aus dem Album einer Familie, die in Deutschland Asyl suchte. Es ist ein Bild, das für so vieles mehr steht als für einen einfachen Ausflug und ein Andenken an den Zoo. Es ist ein Bild, das Vertriebene zeigt, die sich in einem neuen Land, in einer komplett neuen Situation orientieren müssen und vielleicht niemals so wirklich ankommen werden. Varatharajah nutzt dieses Foto und ihre*seine Familiengeschichte um einen Bogen zwischen Kolonialismus, Überlegenheiten, Kolonialfotografie, globale Raubzüge, die Funktionen von Museen und botanischen Gärten, Pogrome und Kriege, Ausrottungen, Vertreibungen und die Flucht… – die zahlreichen Schattenseiten der sehr narzisstischen Ausbreitung der europäischen Imperialisten – zu spannen und sich selbst irgendwo auf dieser Welt zu verorten. In mehreren Teilen nähert er sich so der Geschichte der Kamera, der ‘Ausbreitung’ der Industrialisierung, den Menschen, den Veränderungen und der Ausbeutung der Natur, den Tieren, Einrichtungen zur Zurschaustellung alles ‘Fremden’, den Kriegen und Spuren der Tamilen; der eigenen Geschichte. Unterfüttert von zahlreichen Daten und Fakten, Wissenschaften und Erkenntnissen, vielen Bildern und sehr vielen Verlusten und Traurigkeit.
Den (weißen) Menschen fehlt die Demut vor der Natur oder die Erkenntnis, dass sie selbst nicht der Nabel der Welt sind.

“Obwohl wir – zumindest theoretisch gesehen – zur Kategorie Mensch zählen, so kommen wir aus sehr unterschiedlichen Verständnissen, Kulturen und Beziehungen zum eigenen Körper, dem Menschsein an sich sowie dem Zusammenleben mit unserer Umwelt. Wir unterscheiden uns von europäischen Menschen darin, wie wir uns in diese Natur eingliedern, und ob wir krampfhaft versuchen, uns aus diesen herauszunehmen, versuchen, uns darüberzustellen, nur um immer wieder kläglich daran erinnert zu werden, dass dies unmöglich ist, dass wir trotz technischer Fortschritte Teil der Natur sind.”

Es ist ein außergewöhnlicher Essayband, zwischen Familiengeschichte, Erklärungsversuch und einer Art Anklage, der mir und wahrscheinlich der ganzen weiß-geprägten Welt einiges abverlangt. Sinthujan Varatharajah blickt hier auf das große Leid des Kolonialismus zurück und schildert sehr interessant dessen Auswirkungen bis heute. Vor diesem Buch hätte ich Zoos, Nutztiere, frühere Fotos und Bilder anderer Kulturen, Regenwaldabholzungen, Monokulturen in der Landwirtschaft, Pflanzen zwar hier und da etwas fragwürdig gefunden, aber nie deren wirkliche Ursprünge hinterfragt. Dass einfach so vielen mit der Vergangenheit, den Kolonien, der gewaltigen Unterwerfung zutun hat, finde ich, gerade kurz nach dieser Lektüre, schon sehr erdrückend und traurig. Auch auf die Ursprünge der Fotografie und Luftaufnahmen blicke ich nun mit gemischten Gefühlen zurück… für mich dient die Fotografie eher zum Teilen von schönen Momenten, zum Festhalten von Erinnerungen, teilweise als eine Form der Kunst, aber klar, auch hier gibt es Schattenseiten… die Inszenierungen anderer Kulturen, Abwertung von Menschen, die erzwungene Zurschaustellung.
Und auch wenn mir immer bewusst war, dass wir Europäer anderen ärmeren Ländern mit unserer Gesellschaftsform und unserem Selbstverständlichen Umgang mit Demokratie, Rechten, Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten etwas vorleben, sie teilweise auch gerade aufgrund dieser Bilder, die die europäischen Industrienationen nach außen strahlen, Menschen in Deutschland oder generell in der EU Zuflucht und ähnliche Chancen suchen, so sind wir nach wie vor Ausbeuter und Unterdrücker. Viele Produktionen werden in Länder verlegt, die weniger Löhne bezahlen, wo es weniger Auflagen gibt, die Menschen mehr ausgebeutet werden können oder auch das Land mehr geschändet… und dann ist es irgendwie schon eine Art der Scheinmoral und ein recht fragwürdiges Bild. Der Kolonialismus beeinflusst unsere Welt nach wie vor und gerade, wenn man das alles so liest und verinnerlicht, ist es schon erschreckend, was man als Einzelne*r kaum noch wahrnimmt oder hinterfragt. Auch Länderbezeichnungen, die Entwicklung der Grenzen, die Globalisierung, der doch sehr unterschiedliche Blick auf die Geschichte, vieles hat kolonialistische Bezüge und dann beginnt so ein Gedankenspiel. Was wäre, wenn die Europäer ohne die Kolonien ausgekommen wären? Was, wenn sie gar nicht erst andere Länder erkundet hätten oder die Kulturen und Menschen dort eher als Freunde und weniger als zu unterdrückende Minderheiten gesehen hätten? Wo wären wir heute, wenn alle Kulturen sich frei entfaltet und gegenseitig bereichert hätten? Und wie ist es wohl, wenn man seine Heimat nur von Fotos oder Geschichten kennt und sich dort, wo man jetzt lebt, ständig ‘anders’ fühlt?

“Unsere Geschichten werden mittlerweile an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Sprachen geschrieben und erzählt. Sie klingen nicht immer gleich. Sie fühlen sich auch nicht immer gleich an. Sie wachsen innerhalb und außerhalb der alten und neuen Geografien an Form, Farbe, Bildern, Tönen, Klängen und Melodien. Und dennoch verlieren diese neuen Sinneseindrücke nicht ihre Bindung an die vielen Orte und Leben, die wir hinter uns lassen mussten und die durch uns hindurch weiteratmen.”

Auch wenn dieses Essay nicht immer rund erscheint, bzw. Varatharjah sagt selbst in dem Nachwort, dass einige seiner Bilder als “schief” gedeutet werden und Deutsch vielleicht nicht die beste Sprache für die Geschichten seiner ursprünglichen Heimat und den dortigen Welten ist, so ist es doch ein sehr aufklärender Blick auf etwas, dass uns in unserem Alltag häufig fehlt und vielleicht neben der Aufklärung und seiner eigenen Spurensuche, auch ein Stück weit zur Verständigung und als Schritt aufeinander zu verstanden werden kann. Ich jedenfalls nehme sehr viel aus “an alle orte, die hinter uns liegen” mit.

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Sinthujan Varatharajah – an alle orte, die hinter uns liegen
hanserblau.
352 Seiten. 24 Euro Hardcover.

29. November 2022

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