Roman | Ali Smiths Collage über Freundschaft, Kunst und Bindung – Das Leben im “Herbst”.

“Wieder November. Es ist eher Winter als Herbst. Da ist kein Dunst. Sondern Nebel.
Im Wind schlagen die Ahornsamen ans Glas wie – nein, nicht wie irgendetwas anderes, sondern wie Ahornsamen an Fensterglas schlagen.”

Ali Smiths “Herbst” ist mal wieder eins dieser vielseitig interpretierbaren Bücher voller Gedanken, Bilder, Erlebnisse und Begegnungen. Es ist der Anfang eines Quartetts, ähnlich wie Knausgårds Jahreszeitenbände, und doch beschäftigt sich Smith hier eher mit dem Loslassen und dem allmählichen Abschied, eben dem, wofür der Herbst steht. Sie widmet sich der eher ungleichen Freundschaft zwischen dem alten Herren und einstigen Nachbarn Daniel Gluck und dem Mädchen bzw. der jungen Frau Elisabeth, beschäftigt sich mit aktuellen Themen wie der Abschottung Englands von der EU oder den Wirren der Bürokratie und mit dem Altern, Wachsen und Verblassen des Lebens. Und doch ist es in diesem Fall nicht die Trauer, die überwiegt. Dieser Roman ist voller Leben, Erinnerungen, ehrlicher Menschlichkeit und Empathie. Den sich über die Jahre ändernden, erwachsen werdenden Blick, auf die zunächst eher naiv, spielerischen Anfänge einer Freundschaft, sowie deren fortschreitende Entwicklung, Entfernung und Erinnerung finde ich sehr toll eingefangen. Während Knausgård sich stets seinen eigenen Gedanken widmet, überlässt Smith ihren beiden Protagonisten die Bühne, lenkt sie durch die Zeit, die Vorurteile und den Einfluss der Kunst. Und so entsteht eine bunte Mischung an Geschichten verschiedener Zeitpunkte, Orte und Lebensstadien, Herbstgefühlen und diese sehr feine, philosophisch angehauchte Beziehung zwischen den beiden. Die dabei immer mal wiederkehrende Frage “Was liest du gerade?” hat sich auch noch Wochen nach dem Lesen bei mir ‘eingebrannt’ und ist für mich ein Zeichen einer Freundschaft auf einer anderen Ebene, weit über die Oberflächlichkeit der heutigen Zeit hinaus.

“Es ist möglich […] nicht einen bestimmten Menschen zu lieben, sondern dessen Sichtweise. Ich meine die Art, wie Augen, die nicht die eigenen sind, einem zeigen, wo man ist und wer man ist. […] Wir müssen die Hoffnung haben, […] dass die Menschen, die uns lieben und uns ein wenig kennen, uns letztlich wirklich so gesehen haben, wie wir sind. Auf viel mehr kommt es letztlich nicht an.”

Neben der Beziehung ihrer Protagonisten widmet Smith sich in Teilen dieses Romans der Kunst, der Macht der bildlichen Vorstellung und der Worte. Die Collage, die aufgrund ihrer Vielfalt, dem Zufall und ihrer Komplexität sehr viel mit dem Herbst gemein hat, ist nicht nur als aufgegriffenes Element, sondern auch als Sinnbild für dieses Buch und den Herbst passend. Und so es insgesamt dann auch so eine Mischung aus vielen Themen, Bildern und Menschen. Die Künstlerinnen Christine Keeler und Pauline Boty, ihre Werke und Leben spielen z.B. eine sehr faszinierende Nebenrolle. “Kunst wie diese untersucht die äußere Erscheinung der Dinge, indem sie sie in etwas anderes verwandelt und somit eine Neubewertung ermöglicht. Ein Bild von einem Bild bedeutet, dass das Bild, von seinem Ursprung befreit, mit neuer Objektivität betrachtet werden kann.” ist Elisabeths Erkenntnis mit der sie gegen Ende erneut auf unzählige Passagen des Buches hinweist und eine Reflexion einleitet. Es ist mehr dieser fließende Übergang zwischen dem Früher, den Gedanken, dem englischen Herbst 2016, der Auseinandersetzung mit der Kunst, der dieses Buch prägt und so ist es dann auch ein faszinierendes Fragment, aber (und das ist irgendwie ein großes Aber) es lässt mich am Ende etwas unbefriedigt zurück. Auch wenn ich die Form der Geschichte und Vielfältigkeit sehr mag, so ein bisschen mehr Tiefe wäre schön gewesen, etwas mehr über die Kunst, die Freundschaft, die familiären Bande, das Ende. Auch hier könnte nun eine ellenlange Aneinanderreihungen folgen, aber vielleicht ist es auch gut, dass alles so leicht endet. Es ist mehr wie ein herabsinkendes Blatt, das durch den Wind am Leser/an der Leserin vorbeigetragen wird, kurze Einblicke gewährt und dann in einer Collage einfach so verschwindet. Ich bin nun gespannt auf das was noch kommt, denn im gerade erschienenen zweiten Teil “Winter”, widmet Smith sich erneut einer Geschichte im Aufbruch unserer Zeit, zwischen Bindung, Aufruhr und Erinnerung.

“…es gibt die Wahrheit, und es gibt die erfundene Version davon, die wir über die Welt erzählt kriegen, sagte Daniel.
Nein. Die Welt existiert. Geschichten werden erfunden, sagte Elisabeth.
Die trotzdem nicht weniger wahr sind […] Und wer die Geschichte erfindet, erfindet die Welt, sagte Daniel. Schau deshalb, dass deine Geschichte immer für andere offen ist. Das wäre mein Vorschlag.”

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Ali Smith – Herbst.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand.
272 Seiten. 22 Euro. Hardcover.

30. Oktober 2020

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