“Der Anhalter” und ein aufregender, beklemmender Roadtrip durch Island

“Es sollte die Reise unseres Lebens werden, mit dem Wohnmobil durch Island. Solange ich Isa kenne, will sie nach Island. Früher fehlte uns das Geld dafür, nach Jonathans Geburt war schon ein kurzer Urlaub im eigenen Land eine echte Herausforderung. Jetzt hatten wir Geld, Jonathan war alt genug, und ich, tja, ich hatte auch meine Gründe. Man kann es glauben oder nicht, aber ich war davon überzeugt, mit dieser Reise meine Ehe retten zu können…”

Mit diesen Gedanken beginnt Tiddos Erzählung in Gerwin van Werfs Roman “Der Anhalter”. In den letzten Jahren scheint in Tiddos Familie einiges schief gelaufen zu sein. Die ganze Beziehung wirkt verzwickt. Sein Sohn kapselt sich von ihm ab und irgendwie haben er und seine Frau Isa kaum noch Berührungspunkte. Eine Reise mit dem Wohnmobil durch Island soll ihnen nach 20 Jahren Beziehung nun neuen (Auf-)Wind geben, wenn nicht sogar ihr rettender Anker sein. Sie wollen gemeinsam das Land erkunden, Geysire beobachten, Gesteine sammeln – zumindest ein Teil von ihnen. Schon zu Beginn der Reise gibt es einige Kabbeleien und schließlich einigen sie sich darauf, eine Tramperin aufzulesen. Als sie anhalten wittert auch Svein, ein etwas größerer und merkwürdiger Typ, seine Chance und steigt mit ein. Und irgendwie bringt er dann alles noch weiter ins Wanken. Jonathan findet recht schnell Vertrauen zu ihm, Isa ist mehr oder weniger fasziniert und auch Tiddo scheint plötzlich in ihm eine Art Vorbild zu sehen. Svein findet immer weitere Gründe mit ihnen mitfahren zu wollen. Die ganze Situation scheint mit jedem weiteren Kilometer und jedem Halt immer mehr zu kippen und Tiddo versucht erneut das Ruder rumzureißen. Er beginnt vom ursprünglichen Plan abzuweichen und sieht nur noch die Fahrt zum Kratersee Öskjuvatn im Inneren des Landes als einzigen Ausweg, der alles wieder kitten könnte. Eine halsbrecherische Fahrt beginnt und was dann geschieht, hätte so niemand erwartet.

“Es fällt nicht schwer zu glauben, dass es auf dem Mond so aussieht wie auf der Askja, staubig und leblos. Aber dann hast du den Öskjuvatn noch nicht gesehen, den Kratersee, er versteckt sich hinter einem Bergrücken und ist so magisch, dass man vor lauter Entzücken auf völlig andere Gedanken kommt – dass alles möglich ist, selbst Trost und Erlösung in einer Aschewüste.”

Dieses Buch ist ein großartiges Beispiel dafür, dass Protagonisten nicht immer sympathisch sein müssen, um zu gefallen. Tiddo ist ein sehr anstrengender Zeitgenosse, der sich in seinem Wahn in irgendwas verrennt und auf Teufel komm raus alles in Bewegung setzt, ohne dabei auf die Menschen um ihn herum zu achten. Zuerst denkt man, er hätte in Svein so etwas wie einen starken und verwegenen Menschen gefunden, dem er plötzlich nacheifert, aber Tiddo verrennt sich einfach immer mehr und wird damit auch immer nerviger, eigensinniger und irgendwie auch verrückter. Isa versucht dabei ihn immer wieder in die Schranken zu weisen, aber man merkt bereits in den Anfängen, dass in ihrer Beziehung ziemlich viel im Argen liegt. Während Tiddo immer mehr die ihm fehlende körperliche Nähe in den Fokus rückt und nun mit dieser Reise krampfhaft seine Familie wieder zusammenschweißen will, scheint Isa mehr das Vertrauen, das Verständnis und die Rücksicht zu vermissen. Und irgendwie ist es dann so, als schwebe noch ganz viel Unausgesprochenes im Raum und Tiddo verschweigt ihr Wesentliches.

Als Leser ist man nun gefangen in diesem Unfall bzw. diesem Irrsinn, dem man einfach nicht entkommen kann. Ich habe mich zahlreich über Tiddos Gedanken und sein Verhalten aufgeregt, fand ihn teilweise so wahnsinnig aufreibend und dämlich, hätte gerne zig mal eingegriffen und habe immer wieder so ein ungutes Gefühl gehabt, so dass ich ständig dachte: Wenn er das nun macht, war’s das. Checkt er es denn gar nicht? Aber es ging immer weiter bis… bis nun ja. Ich will ja noch nicht alles verraten. Jedenfalls haben mich die letzten Seiten dieses Romans sehr bewegt und irgendwie auch allen Groll wieder vergessen lassen. Dieses Buch ist so eine locker und leicht erzählte Fahrt Richtung Abgrund und doch wird alles irgendwie wieder aufgefangen. Und so aufgewühlt, genervt, begeistert, war ich nun schon lange nicht mehr. Es ist tatsächlich so, als wäre man dabei, sieht die Landschaft, Island und seine Touristenorte und Straßen und die Familie in ihrem Camper vor sich und begleitet sie. Man ist quasi mittendrin und kann nichts machen. Und diese Emotionen und teilweise die Frustration/die Wut/das Unverständnis haben einen als Leser komplett im Griff. So wird man dann auch sehr rasant durch diese Geschichte getrieben. Also es ist kein Buch, von dem man wirklich lange etwas hat, denn wenn man erst einmal angefangen hat zu lesen, will man auch das Ende kennen und dann ist man innerhalb von einem bis maximal zwei Tagen auch durch. Und gerade für solche Geschichten und dem, was sie mit einem machen, liebe ich die Literatur. Gerwin van der Werf und seine Übersetzerin Marlene Müller-Haas haben hier einen sehr aufwühlenden Roman erschaffen, der mich zwar auf die Palme gebracht hat, aber mich auch total begeistert zurückgelassen hat. Diese thematische Mischung aus Natur, Menschlichkeit und den essentiellen Gedanken, was eine Beziehung aus macht bzw. was falsch laufen kann und auf was man irgendwie achten muss mochte ich sehr. Und gerade dafür, dass es sprachlich so locker, leicht daherkommt, ist dieser Roman emotional und gedanklich sehr aufgeladen. Ich glaube, wer etwas Kurzweiliges und Mitreißendes für Zwischendurch sucht und seinen alltäglichen Gedanken entkommen will, ist mit diesem Buch sehr, sehr gut beraten… Also wirklich toll.

//Die Geschichte erinnert mich übrigens so ein bisschen an “Benzin” von Gunther Geltinger. [eine ausführliche Rezension gibt’s hier] Bei ihm handelt es sich allerdings um ein homosexuelles Paar, das einen Roadtrip im Süden Afrikas unternimmt, um ihre Beziehung zu retten. Aufgrund eines Unfalls sammeln sie dann einen Einheimischen auf und reisen gemeinsam mit ihm tiefer ins Land. Auch er stellt für die zerbrechliche Beziehung eine enorme Herausforderung dar, man erfährt viel über das Land und die dortige Situation… und ja, es hat sehr starke Parallelen. Allerdings ist Geltingers Roman insgesamt etwas anspruchsvoller, aus Sicht der Handlung weniger aufwühlend, dafür von der dort herrschenden Situation sehr bedrückend und teilweise nicht ganz so ‘schön’ greifbar wie diese.

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Gerwin van der Werf – Der Anhalter.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
S.Fischer.
286 Seiten. 20 Euro. Hardcover.

25. Mai 2020

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