Der erste Norweger, der bei mir in diesem Herbst eingezogen ist (und ein bisschen länger auf meinem Lesestapel gelegen hat), ist Carl Frode Tiller mit seinem Roman Der Beginn. Thematisch und optisch (ich bin ja so ein Coverkäufer) hatte mich dieses Buch sofort fasziniert. “Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden, gelebt werden muss es vorwärts, heißt es bei Soren Kierkegaard.” lautet der erste Satz im Klappentext und gerade für solche Aussagen, bin ich ja immer etwas empfänglich. Die zusätzlichen Nominierungen für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den Norwegischen Kritikerpreis und den Norwegischen Preis des Buchhandels werteten das Ganze dann noch einmal auf und so musste ich dieses Buch dann auch unbedingt lesen, aber… Hm, Ich fange erstmal vorne an.
“Wenn ich früher darüber fantasiert hatte, meinem Leben ein Ende zu setzen, hatte ich eine feierliche, fast rituelle Handlung vor mir gesehen, mit Abschiedsbrief, Anzug und einem Ort, der mir viel bedeutete, und mein letzer Gedanken, bevor plötzlich Panik in mir hochstieg und ich versuchte auszuweichen, war: Ich hätte etwas mehr daraus machen sollen.”
Terje fuhr unangeschnallt und viel zu schnell in einen entgegenkommenden Lastzug und liegt nun nach seinem eher spontanen Suizidversuch im Krankenhaus im Sterben. Dieser Roman ist nun ein Rückblick auf sein eher bescheidenes Leben, geprägt von allerlei Reinfällen, Frustration, Schmerz, selbst verbauten Chancen und anderen Problemen mit der Familie. Seine einzige Zuflucht war jeher die Natur. Bereits als Kind fühlte er sich hier aufgehoben und auch als Erwachsener sah er hierin seine Berufung. Doch zwischendrin tauchen zahlreiche blinde Flecke auf. Das Gefühl verlassen worden zu sein. Abgerutscht. Ausflüchte in Gewalt. Wut. Frustrationen. Und eigentlich gibt es da auch noch einige Menschen, die stets das Beste für ihn wollten, doch für sie scheint er nur selten empfänglich zu sein. Terje verdrängt die Wut oder lässt sie punktiert an anderen Menschen und Familienmitgliedern aus. Freunde scheinen generell rar zu sein und auch sonst verlief sein Leben nicht wirklich erfolgreich, aber genau das, kann er euch in Tillers Roman dann auch selbst erzählen.
Der Beginn ist der Einblick in ein Leben vom nahenden Ende bis zum Anfang der Erinnerung. Eine Depression, die das ganze Leben infrage stellt. Und Rückblicke, die das ganze Leben verpfuschen, schmerzhafte Abgründe aufreißen, zu Selbstbetrug, Schauspielerei, Selbstvorwürfen und Entscheidungen führen, die endgültig über alles richten.
“Wann bin ich eigentlich so geworden?, dachte ich, als die Veranstaltung endlich vorbei und ich mit Marit auf dem Weg zum Auto war. Und wie um alles in der Welt hatte ich das zulassen können? Ich öffnete die Autotür und stieg ein. Ich war niedergeschlagen, fast schon traurig, als ich mir den Sicherheitsgurt über die Brust zog und mit einem Klicken in der Halterung befestigte.”
Obwohl dieser Roman vom Setting eigentlich sehr vielversprechend klingt, hat er es mir dann tatsächlich nicht gerade einfach gemacht. Terje ist ein sehr anstrengender und nicht immer verständlicher Charakter, sehr häufig hat er mich aufgeregt oder ging mir einfach mit seiner Art auf den Keks. Das blöde ist nur, dass sich diese Geschichte eben hauptsächlich um ihn dreht, denn alle anderen Protagonisten waren mir um einiges lieber. Zu Beginn wollte ich noch unbedingt wissen, wieso er so ist und in allem das Schlechte sieht, ganz viel Aggression in sich verspürt und was ihn zu seinem plötzlichen Suizid veranlasst hat, doch dann kamen so tolle Charaktere wie seine Tochter und Ex-Frau ins Spiel, seine ganze Familie mit ihren Eigenheiten und Problemen und so war ich eigentlich mit jeder weiteren Seite von ihm selbst genervt. Gut, scheinbar trägt er die Veranlagung für eine Depression mit sich und auch seine ständig gefühlte Präsenz anderer, scheint ein Zeichen für eine psychische Belastung zu sein. Seine Oma war depressiv, seine Mutter Alkoholikerin und sein Vater verließ ihn bereits in seiner Kindheit und suchte ihn noch einmal kurz vor seinem Krebstod auf und auch seine Schwester kann es ihm und vor allem sich selbst nie recht machen. Beste Voraussetzungen für ein schönes Leben sind das nicht und doch wurde ich aus Terje trotz dieser 340 Seiten Rückblick einfach nicht schlau.
Wieso ist er so geworden? Vieles wird auf Terjes Kindheit und die daraus resultierenden Eigenarten zurückgeführt und trotzdem hätte ich mir da sehr viel Klarheit gewünscht. Tiller beschreibt einzelne Szenen, springt zwischen den Jahren und Tagen und greift sich hier und da kleine Anekdoten, Erinnerungsfetzen heraus. Und das war für mich dann auch ein großes Verständnisproblem. Ich dachte die Datierung der einzelnen Abschnitte bezieht sich auf den Ursprung dieser Rückblende, doch bereits das zweite “Zwei Tage vorher” passte inhaltlich und jahreszeitlich schon nicht mehr zusammen und verwirrte mich zusehends, bis ich dann nach etwa 200 Seiten verstand, dass sich die Zeitangabe stets auf das vorherige Kapitel bezieht. Und vielleicht habe ich gerade dadurch so einiges nicht richtig zuordnen können und es fehlt mir daher der Zugriff auf Terjes Wesen und doch hab ich auch keine Meinung dazu, alles noch einmal erneut zu ergründen. “Der Beginn” ist insgesamt, sofern man die Ausbrüche des Protagonisten mal ausblendet, recht ruhig und unaufgeregt. Zahlreiche Naturbeschreibungen und auch die Veränderungen und Herausforderungen in Sachen Klima und Umwelt lässt Tiller immer wieder durch den Job und die Begeisterung Terjes einfließen. So werden Insekten, Muscheln, Fische, vom Aussterben bedrohte Tiere und Pflanzenarten mit einbezogen und das ist scheinbar für die norwegische Literatur ein sehr typisches Detail und in dieser Form ist es dann auch sehr bereichernd. Allerdings mag ich hier keine eindeutige Leseempfehlung aussprechen, da hier sehr viel auf die Harmonie zwischen dem Leser und dem Protagonisten ankommt und diese bei mir eben nicht gegeben war. Vielleicht ergeht es euch da ja anders, für einen ersten Eindruck empfehle ich jedoch über die ersten zwei Kapitel hinaus reinzulesen, denn sonst könnte es euch ähnlich wie mir ergehen.
Carl Frode Tiller – Der Beginn.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Nora Pröfrock.
btb.
352 Seiten. 22 Euro. Hardcover
No Comments