“Weißt du, Freund, für mich ist jeder Tag und jede Stunde neu.” – David Wagners Begegnungen mit der Demenz

Was will man sagen, wenn es in einem Buch um das Vergessen geht? Was, wenn es hauptsächlich Dialoge sind, die einen emotional berühren, zum Nachdenken bringen oder gar betrüben? Was ist, wenn es gerade ein Buch ist, das das größte Problem des Älterwerdens thematisiert und doch so anders, so bewegend und toll ist? Genau vor dieser Aufgabe stehe ich gerade. Der vergessliche Riese von David Wagner hat mich nämlich in sehr vieler Hinsicht getroffen. Er befasst sich mit der Demenz seines Vaters, der Geschichte der Familie und der nach und nach schwindenden Erinnerung. Demenz ist eine Erkrankung die jeder fürchtet, auch sein Vater würde dies lieber gar nicht erst erleben. “Im Fall des Falles schubst du mich bitte in den Teich” oder “Bevor ich völlig verblöde, gibst du mir bitte einen Stoß.” sind die Aufforderungen an seinen Sohn David. Doch auch diese sind ihm mit der Zeit wieder entfallen. Der Einundsiebzigjährige lebt zwischen der gegenwärtigen Realität und dem Vergessen. Manchmal leitet ihn die Phantasie, manchmal ein Erinnerungsfetzen. Wir begleiten Vater und Sohn über einige Zeit und beobachten den fortschreitenden Verlauf seiner Erkrankung.

“Seine Stimme ist die von früher, sie hat sich kaum verändert. Sie klingt noch immer so, als sage er nur kluge Sachen. Früher, im seltsamen Früher, wo liegt dieses geheimnisvolle Land, wusste er alles. Er war der Riese, auf den ich klettern konnte, er war der Größere.”

Es ist wie ein Rollentausch. Der einst so große, starke Mann, der David und seinen Schwestern stets den Weg gezeigt hat, bedarf nun ihrer Hilfe. Seit über zwei Jahrzehnten haben sie sich kaum gesehen und nun ist es gerade diese zwischenmenschliche Interaktion nach der er sich sehnt. Er ist ist bereits zweifach verwitwet. Sobald ihm dies klar wird, entgegnet er stets aufs Neue: “Nun ist mir schon die zweite Frau weggestorben. Ich muss ja schwer auszuhalten sein.” Auch seine Betreuerinnen wechseln immer wieder und generell scheint nichts mehr von Dauer zu sein. Er wird das Auto nicht mehr halten können, fahren darf er nun eh nicht mehr, und auch das Haus ist nur noch ein Zufluchtsort auf Zeit. Davids Vater muss sich vom dem was ihn sein Leben lang begleitet hat verabschieden, Verwandte schwinden und alles wird nach und nach in Vergessenheit geraten.
Wagner schildert er sehr einfühlsam seine Besuche, Gespräche und den Verlauf der Demenz seines Vaters. Wir begleiten die beiden auf zahlreichen Fahrten und Ausflügen zu Orten, an denen die Erinnerung und Vergangenheit ruht. “hier haben wir gewohnt, Papa, hie hast du gearbeitet, hier bist du aufgewachsen…” Der Besuch zu Weihnachten, der ungewollte Umzug, der neue Alltag im Leben des Verschwindens.

“Im Grunde ist alles im Leben nur geliehen, Freund. Selbst die Dinge, von denen du dir einbildest, sie gehören dir, sind nur geliehen. Du verlierst alles wieder. Autos, Häuser, Ehefrauen. […] Die Zeit […] holt sich alles wieder zurück. Eines Tages wird sie auch dich zurückholen, dein eigenes Leben hast du nämlich auch nur geliehen. Eines Tages musst du es zurückgeben.”

Eher vorsichtig und behutsam nähert sich Wagner dieser ganz besonderen Vater-Sohn-Beziehung und damit seinem “Riesen” an. Dieser autobiographische Roman ist sehr dialoglastig und gerade das kommt ihm zugute. So ist es dann auch eine eher feine, sehr bewegende und vor allem auch persönliche Auseinandersetzung mit diesem doch sehr sensiblen Thema. Wagner hat mich eigentlich bereits nach den ersten Zeilen für sein Buch begeistern können und das “Was machst du hier, Freund?” erzeugte zugleich eine gewisse Vertrautheit und Nähe. Mit den nachfolgenden Seiten gesellen sich dann auch andere Gefühle, Humor, Liebe, Wut, Trauer, Angst und Aggression hinzu. Wagners Erzählstil ist dabei unvergleichlich nah. Es ist als sei dieses Buch eine Erzählung, ein Dialog mit einer einem selbst nahestehenden Person. Ein Mensch, der einen fordert und die Geduld aufgrund seiner zahlreichen plötzlich aufploppenden und sich ständig wiederholenden Fragen und Erinnerungen auf eine harte Probe stellt. So werden teilweise nebensächliche Anmerkungen oder banale Beschreibungen der Gegend zu etwas ganz Besonderem.
Und auch, wenn Wagner den Fokus ganz klar auf seinen “Riesen” lenkt, spielen weitere Gedanken und Thematiken eine Rolle. Seine Tochter, die nachfolgende Generation, kommt mit der Erkrankung seines Vaters in Berührung. Sie besuchen ihn gemeinsam im Wohnheim und sie bringt eine neue Sichtweise sowie Anmerkungen zur aktuellen Klimadebatte mit ein. Es ist so, als würde Wagner den Verlauf des Älterwerdens/ der Generationen mit ihren Sorgen, Problemen und alltäglichen Gedanken vereinen. – Der Vater, der an seinen Liebesgeschichten hängt, dem Leben und den täglich die Angst des Vergessens aufs neue plagt. Der Sohn und seine Schwestern, die plötzlich eine ganz neue Aufgabe bewältigen müssen und neben ihren Leben, nun auch den Vater stützen. Und Davids Tochter mit ihren ‘neuen’, anderen Sorgen und Problemen.

“Ich nehme seine Hand, die mir nun gar nicht mehr so groß vorkommt wie früher. Sie war mal riesig, jetzt fühlt sie sich an wie eine Kinderhand. Ich drücke sie, halte sie fest.”

Und genau das möchte ich dann tatsächlich auch mit diesem Buch machen. Festhalten und nicht enden lassen wollen. David Wagner hat mir einen Blick in sein Leben gewährt und das so fein und klar, dass ich fürchte, dass er mich nun in irgendeiner Weise noch ganz lange begleiten wird. Seine bisherigen Romane sind nun zumindest alle auf meine Wunschliste gewandert und ich hoffe, er mich damit mindestens genauso erreicht wie mit seinem “vergesslichen Riesen”.

David Wagner – Der vergessliche Riese
Rowohlt.
272 Seiten. 22 Euro. Hardcover.

24. September 2019

No Comments

Leave a Reply

You Might Also Like