Wenn nur noch die Erinnerung bleibt – “Nacht in Caracas” von Karina Sainz Borgo

Karina Sainz Borgo entführt uns mit ihrem Roman Nacht in Caracas nach Venezuela zu Zeiten der bolivarischen Revolution in den Anfängen des 21. Jahrhunderts. Und dies ist tatsächlich nicht einfach nur so eine Geschichte, es ist viel mehr harte Realität, denn Borgo selbst wurde 1982 in Caracas geboren und emigrierte vor etwas mehr als zwölf Jahren nach Spanien. “Nichts war für mich dringlicher, als die Geschichte zu schreiben. Über den Sturm zu sprechen, während er in einem tobt.”, so die Autorin. Und damit entstand dann auch ein sehr mitreißender, eindringlicher und aufwühlender Roman, der die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion durchbricht. “Nacht in Caracas” zeigt das Leben einer Frau, die ums Überleben kämpft, in diesem Kriegsschauplatz gefangen ist und dabei alles verliert.

“Meiner Mutter und ich waren die letzten Bewohner der Welt gewesen, die hier Platz gefunden hatte. Jetzt waren beide tot: meine Mutter und mein Zuhause. Auch das Land.”

Adelaida hat gerade erst ihr Mutter beerdigt. Für einen wirklichen Abschied bleibt ihr allerdings keine Zeit, denn in den sehr angespannten Verhältnissen im Land, machen Diebe und Verbrecher auch vor Friedhöfen und Trauergesellschaften keinen Halt. Anarchie, Chaos, Hunger, Angst und Verzweiflung toben im Caracas, Venezuela. Dies liegt vor allem an der Revolution, ihren Anhängern und Banden, die die schrecklichen Ausmaße einfach jeden spüren lassen und alles kontrollieren wollen. Adelaida wird von einer Gruppe Frauen gewaltsam aus ihrer Wohnung geworfen. Ihr ganzer Besitz bleibt eine vage Erinnerung. Tränengas liegt in der Luft und alles um den Wohnblock herum gleicht einem großen Schlachtfeld. Aber nicht nur das, Adelaidas steht noch vor ganz anderen Herausforderungen… Alle ihre Verbindungen sind abgerissen oder verstorben oder, wie ihre Tanten, zu weit entfernt. Ihr neuer Zufluchtsort ist auf lange Sicht eine Sackgasse, doch wie es der Zufall so will, eröffnet eine Chance ihr bald die ganze Welt, doch der Einsatz ist hoch…

“Als du im Sterben lagst, ist das Land verrückt geworden. Um zu leben, mussten wir Dinge tun, von denen wir nicht hätten träumen lassen, dass wir sie tun könnten: plündern oder schweigen; dem anderen an die Kehle gehen oder wegsehen.
Es beruhigt mich, dass du das nicht mehr miterlebt hast.

“Zärtlich und bitter, überwältigend und erschütternd, packend und erschreckend. Lesen Sie das!”, sagt El Mundo und dem kann ich mich einfach nur anschließen. Dieser 220 seitige Roman hat eine Wucht, die man vorher eigentlich überhaupt nicht erahnen konnte – zumindest ging es mir in diesem Fall so. Karina Sainz Borgo wirft den Leser in Adelaidas Leben und reißt ihn binnen kürzester Zeit mit. Und so fiebert und hofft man mit ihr, ist erstaunt, aufgewühlt und kann sich diese Ausmaße einer Revolution eigentlich nur bedingt vorstellen. Die anfängliche Kälte und Abgeklärtheit, weicht relativ schnell der Angst. In Venezuala waren es keine friedlichen Demonstrationen, die das Leben der Bevölkerung verbesserte. Es war ein Krieg, der tausende Unschuldige betraf, sie aus dem Leben katapultierte und vor neue Herausforderungen stellte. Dieser Roman, der eigentlich nur einen Monat umfasst, kommt einem vor wie ein ganzes Leben. Ein Leben voller Gefahr, Angst, Wut, Tumult und Hoffnung. Und selbst wenn am Ende die Möglichkeit eines Auswegs besteht, so bleibt man selbst noch Tage nach der Lektüre sehr erschüttert, wort- und hilflos zurück. Geprägt von ihrer eigenen Geschichte ist Borgo hiermit eine sehr detaillierte, bildhafte und klare Beschreibung der Situation eines Landes, ihres Heimatlandes und dessen brutalem Aufruhr gelungen. Nacht in Caracas ist gewaltig, eindringlich und doch genau richtig. Es ist ein großartiges Buch und eine wirklich große Leseempfehlung von mir!

“Alles hatte geendet, wie es begonnen hatte: mit einem Haufen Teller, die zu nichts nütze waren. Ich drehte das Gesicht zum Fenster, der schwarze Himmel erwachte träge, als würde das langsame Hervorkommen der Sonne den Tag fortreißen […] Hinter sich lassen…”

Karina Sainz Borgo – Nacht in Caracas.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
S.Fischer.
220 Seiten. 21 Euro. Hardcover.

6. September 2019

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