Das Schicksal der Schwächeren – ein Jahrhundertroman der etwas anderen Sorte

“Gott wohnt im Wedding” von Regina Scheer ist ein recht ungewöhnlich vielschichtiger Roman. In ihm offenbart sich die Geschichte und Ereignisse des letzten Jahrhunderts – von Krieg und Judenverfolgung bis Roma-Aufstände.

 

“Ich bin das älteste Haus in der Straße. Irgendwo hinterm Leopoldplatz soll es noch ältere geben, aber das habe ich natürlich nicht gesehen. Ich habe überhaupt nur gehört, was hier auf meinem Hof, zwischen meinen Wänden geredet wurde, und nu gesehen, was da geschehen ist, und das reicht mir auch.”

 

Ein Haus in der Utrechter Straße Berlins und seine Bewohner. Sie alle haben große Schicksalsfälle hinter sich oder sind gerade dabei ihr Leben neu zu finden. So auch Gertrud Romberg, die 1918 in dem Haus im Wedding geboren wurde und ihr ganzes Leben dort verbrachte, den zweiten Weltkrieg durchlebte und den jüdischen Nachbarsjungen Leo Lehmann und Manfred Neumann Unterschlupf gewährte. Doch sie wurde beobachtet. Manfred wurde in ihrer Wohnung von der Gestapo verhaftet und abgeführt, Leo verschwand, ein Trauma blieb.
Leo Lehmann floh nach Israel und kehrt nun wegen einer Erbangelegenheit nach 70 Jahren mit seiner Enkelin zurück nach Berlin. Ihr Hotel ist ganz in der Nähe, alte Erinnerungen kommen hoch und so führen ihn seine Wege erneut in die Utrechter Straße und damit auch zu Gertrud. Allerdings verbleibt er immer wieder im Eingangstor und beobachtet die spielenden Kinder im Hof. Dort trifft er Laila Fidler, die nun auch in dem alten Haus wohnt. Vor knapp drei Jahren wollte sie in Berlin einen Neuanfang wagen, doch schneller als gedacht, holt sie hier ihre Sinti-Herkunft ein. In dem Haus tummeln sich hauptsächlich geflüchtete Roma, für die sie sich im Laufe der Zeit wie eine Sozialarbeiterin verantwortlich fühlt. Sie versteht sie. Sie kann Deutsch und kennt die Bürokratie. Das Haus ist überlaufen. Es ist ein Ort für die Schwächsten, ein wühliger Schlafplatz und niemand sonst fühlt sich für sie zuständig. Die Hausverwaltung wechselt ständig, Ansprechpartner gibt es keine und eigentlich möchte man die Bewohner hier einfach nicht mehr haben. Sie werden vergrault, abgeschoben, verwiesen, umgesiedelt, bestochen und ein Haus, das hundertzwanzig Jahre mit Leben gefüllt war, beginnt zu verkommen. Dies ist seine Geschichte. Dies ist das Schicksal der Menschen in der Utrechter Straße.

 

“Ich denke oft an diese Männer, deren Schweiß in meinen Wänden steckt, meine Balken haben ihre Wut, aber auch ihr derbes Lachen aufgesaugt. Zu mir sind immer wieder Menschen gekommen wie diese Heimatlosen. Meist konnten sie nicht lange bleiben. Andere Bewohner blieben ihr Leben lang.”

 

Regina Scheer hat hier ein geschichtlich, gut recherchierte Erzählung erschaffen und doch hat sie mich mit diesem Roman etwas enttäuscht. Vielleicht habe ich auch einfach etwas anderes erwartet, denn dieses Buch enthält eben keine Unterhaltungsliteratur. Es ist ein mühsamer, aber sehr vielseitig aufrüttelnder Ausflug in die Historie, in den zweiten Weltkrieg, in aktuelle und vergangene Probleme, Abschiebungen, Schicksale, umringt von der Geschichte eines Hauses und seiner ältesten Bewohnerin Gertrud.
Ich habe fasziniert ihren Erzählungen und Erinnerungen an die Kriegszeit gelauscht. Oft war ich sehr gerührt und überrumpelt von der damaligen Skrupellosigkeit, der Menschenverachtung und den Schreckenszuständen damals wie heute. Juden. Roma. Zurückgebliebene. So verschieden und doch teilen sie auf unterschiedlichste Art das gleiche Schicksal. Sie alle haben Hoffnungen, aber  diese enden scheinbar stets in einem neuen Kampf und das nicht immer siegreich. Und ja, das alles klingt für einen Roman wirklich noch immer großartig, aber es hat mich menschlich einfach nicht mitgerissen. Die zahlreichen einzelnen Schicksalsfälle sind tragisch und manchmal wirklich aufwühlende Katastrophen voller Angst, Unsicherheit, Skepsis und irgendwie doch voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft, einen Weg, Perspektiven, Leben. Und obwohl Regina Scheer vieles auch mit zahlreichen zusätzlichen Geschichten, Zahlenangaben und Fakten untermauert, so hat sie mich emotional nur gestreift. Das Haus, Gertrud, Leo und Laila erzählen abwechselnd von ihrem Leben und ihren Erlebnissen. Die kurzen Kapitel vom Haus, waren für mich die bewegendsten. Und ich weiß eigentlich auch gar nicht wie ich es beschreiben soll, denn auch Gertrud ist mir zwischenzeitlich ans Herz gewachsen, aber diese zahlreichen historischen Begebenheiten und Einschübe machen es wirklich schwer an die einzelnen Charaktere heranzutreten. Sie alle bilden für mich leider nur einen leeren Rahmen, der die Geschichte trägt und ist für einen Roman tatsächlich sehr schade. Die Idee finde ich nämlich nach wie vor großartig, zumal die Grundthemen und auch die Geschichte des Hauses, das Ganze irgendwie besonders macht, aber es ist eher ein gutes, fiktionales Sachbuch mit persönlichen Erzählungen der Historie. Gerade damit habe ich tatsächlich nicht gerechnet und so konnte ich dann auch keine wirkliche Nähe aufbauen, die für mich bei Romanen eigentlich immer sehr entscheidend ist. Vielleicht war es aufgrund der zahlreichen verschiedenen Charaktere auch einfach zu wuselig. Vielleicht ist einfach so gewollt und Scheer hat bei ihrer Geschichte den Fokus ganz bewusst auf das große Ganze der damaligen Zeit gelenkt. Das Persönliche hätte in meinen Augen einfach viel mehr Raum benötigt. Zumindest weitere Ansätze, tolle Elemente und Gegebenheiten sind ja auch vorhanden, aber nur umrissen und nicht wirklich tief ausgearbeitet. “Gott wohnt in Wedding” macht jedenfalls Lust, sich noch einmal mit der Geschichte auseinanderzusetzen, denn dieser Roman legt noch einmal einen anderen Finger in die Wunde der NS-Zeit und fehlenden (Zwischen-)Menschlichkeit.  Es ist sicherlich für Historiker oder Menschen, die schon lange in Berlin wohnen oder zahlreiche Unruhen mitbekommen haben ein großartiges Buch, aber bei der Handlung und Charakterentwicklung gibt es für mich hier tatsächlich einige größere Schwachstellen, sodass ich einfach nicht begeistert sein kann.

 

“Mehr als hundertzwanzig Jahre ist das her. Hier habe ich so viele kommen und gehen sehen. Aber jetzt kommt niemand mehr, das weiß ich Jetzt gehen sie nur.

 

Oder in kurz: Ein etwas trockener, aber sehr gut recherchierter Ausflug in die Geschichte Berlins/der Utrechter Straße und der Frage nach Menschlichkeit, Hilfsbedrüftigkeit und Nähe.

 

Regina Scheer – Gott wohnt im Wedding.
Penguin Verlag.
416 Seiten. 24 Euro. Hardcover.

5. Juni 2019

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