Auf den Spuren eines Psychopathen

Jeder, der mich kennt weiß, dass ich kein Fan von dicken Büchern bin. Dick fängt bei mir ab 400 Seiten an, eben diese Werke, die man  zwischenzeitlich nicht einfach mal so eben lesen kann. Meistens gucke ich dann schon ab dem ersten Drittel nach, wann denn endlich das Ende kommt oder bin zwischenzeitlich total gelangweilt, schweife ab und quäle mich mehr oder minder langsam dem Ende entgegen. Wie gesagt, meistens.
Unter der Haut von Gunnar Kaiser hat mich allerdings in vielerlei Hinsicht überrascht, fasziniert und gefesselt, sodass ich hier eigentlich nur Worte des Lobes und der Verehrung finden kann, aber dazu später mehr. Worum geht’s?

 

 

Zunächst befinden wir uns im New York der späten 60er Jahre und treffen dort auf den eher schüchternen und unbeholfenen Literaturstudenten Jonathan Rosen. Er hat sich vorgenommen sich zu überwinden, folgt einer sehr schönen, wenn nicht sogar DER Frau in eine Bar und traut sich dann doch nicht sie anzusprechen. Aus der Nähe beobachtet er nun die Verführungskünste von Josef Eisenstein und als dieser mit der Frau das Lokal verlässt, folgt er ihnen.
Eisenstein hat dies bereits kommen sehen, es scheint alles so, als wäre Jonathan auf einen Trick hereingefallen, doch irgendwie schafft er es Jonathan in seinen Bann zu ziehen und eine Art Schüler aus ihm zu machen. Es entsteht eine seltsame Freundschaft zwischen beiden. Eisenstein lehrt ihn die Kunst des Verführens und möchte, dass Jonathan ihm seine Eroberungen vorführt, während er in einer dunklen Ecke steht und beide den Geschlechtsakt vollziehen. Er möchte die dabei entstehenden Gefühle und Emotionen aufsaugen, es fühlen ohne selbst Hand anlegen zu müssen.

 

“Inmitten all dieser Bilder sehe ich ihn noch heute,
sah ich ihn in der Nacht, sah, wie er uns zusah.
Inmitten all dieser Erinnerungen meiner Sinne steht er.
Steht in seinem Höhleneingang, schweigt, raucht und schaut.”

 

Eisenstein besitzt eine beeindruckende Sammlung nahezu antiker Werke mit besonderen Bindungen. “Man muss mit den Büchern leben […] sonst ist es sinnlos, sie zu besitzen.”, so seine Meinung. Allerdings befindet er sich schon sehr lange auf der Suche nach DEM einen, vollendeten Buch, das in ihm ein wahres Feuerwerk an außergewöhnlichen Gefühlen, Eindrücken und Anbetung entfacht.

Nahezu gleichzeitig geschehen grauenhafte Morde an jungen, schönen Frauen. Zunächst verschwinden sie spurlos, doch nach wenigen Monaten tauchen ihre enthäuteten Leichen eine nach der anderen wieder auf.  Die große Suche nach dem Psychopathen, dem Skinner von Williamsburg beginnt.

 

“Gehäutet. Von Kopf bis Fuß. Oder eher: vom Hals bis zu den Knöcheln. Seit Monaten zieht man in dieser Gegend Frauenkörper aus dem Wasser, die vollkommen enthäutet sind. […] Das sind keine Mädchen, die aus Liebeskummer mal für ein paar Tage weglaufen. Das ist eine Mordserie…”

 

Unter der Haut, ein Triptychon aus drei einzelnen Zeitabschnitten/Teilen bzw. Büchern, die am Ende ein so schön ineinandergreifendes Ganzes ergeben. Gunnar Kaiser erschafft ein sprachgewaltiges Konglomerat aus historischen Begebenheiten um den Zweiten Weltkrieg, dem New York der 60er und einem Roman aus Faszination, Besessenheit und Liebe.
Mich selbst hat dieses Buch bereits ab der ersten Seite in den Bann gezogen und erst mit dem plötzlichen Ende wieder losgelassen. (Gut, eigentlich war ich bereits vom Klappentext als solches mehr als angetan.) Der Schreibstil ist sehr angenehm und unterstützend. So wechselt Kaiser bei der Rückblende und Kindheit Eisensteins in die alte Rechtschreibung oder zwischenzeitlich die Perspektive um noch mehr Tiefe und Fokussierung zu gewinnen.
Das ist Literatur auf hohem Niveau – gut konstruiert, durchdacht, mitreißend, bildhaft und formvollendet mit einem ansprechenden Satzspiegel und Typografie sowie einem wirklich schön gestalteten Einband mit sinnvoller Laserstanzung des Schutzumschlags.
Ein Kleinod, das ich beinahe jedem empfehlen möchte. Sehr zartbesaitete Menschen sollten dieses Buch allerdings nur von außen bewundern.

 

“Als ich jung war, suchte ich nach Mädchen. Meine Suche begann am frühen Morgen des Tages, an dem ich zwanzig Jahre alt wurde, und sie endete unter den Sternen der letzten Sommernacht meines Lebens.”

 

Gunnar Kaiser – Unter der Haut
berlin Verlag.
528 Seiten. Wirklich gut angelegte 22 Euro. Hardcover.

25. April 2018

1 Comment

  • Reply Das war 2018 – Meine literarischen Highlights | booksandnotes 30. Dezember 2018 at 0:33

    […] Wo wir gerade bei Spannung sind, kommen wir zu einem Roman über eine abscheuliche Faszination, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht. Gunnar Kaiser hat es geschafft mich mit “Unter der Haut” in diese Geschichte über einen bibliophilen Mörder zu ziehen. Und es ist nicht nur die Geschichte als solches, die ich hier besonders stark und mitreißend empfinde, es ist auch der Aufbau und ganze Atmosphäre des Buches. Gunnar Kaiser hat hier ein bis aufs Detail abgestimmtes Buch geschrieben. Seine drei Teile sind für mich mit einem Tryptichon vergleichbar – ein jeder Abschnitt hat etwas total faszinierend Fesselndes. Selbst die äußere Erscheinung passt hier beinahe perfekt zum Inhalt. Es ist das Entdecken und die Suche nach der Perfektion, die hier über Leichen führt. Es erinnert an “das Parfum” und doch ist es für mich allemal ein Stückchen besser. (Bzw. mit dem Parfum konnte ich nicht ganz so viel anfangen.) Etwas ausführlicheres zum Inhalt, gibt’s dann hier>> […]

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