Sachbuch | “Echter Wohlstand” – eine Einladung zum Umdenken

In der letzten Monaten wurde aufgrund der steigenden Inflation, der rückläufigen Wirtschaftskraft und der Komplexität der Welt mit all ihren Problemen häufig von Wohlstandsverlust geredet. Aber Wohlstand, was ist das eigentlich und woran macht man das fest? In den Medien und wahrscheinlich auch bei vielen Menschen ist Wohlstand rein materiell definiert. Konsum, Besitzgüter, Urlaubsreisen, nur Finanzielles, oder was man davon kaufen kann, zählt… eine erschreckende Sicht. Woher kommt das? Wann ist uns der Sinn und die Freude an allem anderen abhanden gekommen? Was ist mit Zeit, Beziehungen, Kreativität und Verbundenheit? Vielleicht sollten wir uns nicht immer nur an Zahlen orientieren, sondern an den Dingen, die wirklich zählen.

“Ich möchte mit diesem Buch zu einer neuen Betrachtungsweise einladen. Wie wäre es, wenn wir unseren Wohlstandsbegriff grundlegend hinterfragen? Könnte es nicht sein, dass vieles von dem, woran wir uns verzweifelt klammern, eigentlich überflüssig ist? Und könnte es nicht ebenso sein, dass unser einseitiges Streben nach materiellem Wohlstand uns zwingt, auf nicht-materielle Formen von Wohlstand zu verzichten, die für unser Wohlergehen und Glück jedoch von übergeordneter Bedeutung sind?”

Vivian Dittmar hat mich vor Jahren mit ihrem Buch “Der emotionale Rucksack – Wie wir mit ungesunden Gefühlen aufräumen” schon sehr beeindruckt bzw. konnte ich aus ihren Gedanken und Hilfestellungen sehr viel für mich rausziehen und viele Zusammenhänge besser verstehen. So habe ich mich dann auch auf ihr Plädoyer für neue Werte in “Echter Wohlstand – Warum sich die Investition in inneren Reichtum lohnt” sehr gefreut. Und irgendwie kam es auch genau im richtigen Moment, denn wenn man das ganze Treiben in der Welt beobachtet, viele Vorgänge und Dinge hinterfragt, ist dieses Buch eine sehr nette, neue Sicht, die einen aus der medien- und wirtschaftsgesteuerten Argumentation herausholt und einem wieder bewusst macht, wie wichtig eigentlich Zeit, Beziehungen, Kreativität, Spiritualität und der Einklang mit der Natur/Ökologischer Wohlstand sind. Dabei setzt sie sich ausführlich mit dem Jetzt-Zustand der Welt und Gesellschaften auseinander, beschreibt die (un-)sichtbare Armut und unsere Abhängigkeit vom Geld, gibt Anregungen über das Haben und Sein oder dem ständigen Drang nach Mehr nachzudenken. Und gerade das Mehr ist in der ressourcenbeschränkten, endlichen Welt so ein großer Knackpunkt. Ausbeutungen nehmen zu, andere Kulturen werden zunehmend zerstört oder durch Industrie und Monokulturen enorm eingeschränkt und verdrängt, gar andere traditionelle Lebensweisen immer mehr verwestlicht.
Dittmar wechselt hier zwischen Erklärungen, Erzählungen aus ihrem Leben, schildert Begegnungen mit anderen Kulturen und damit ganz andere Ansichten und Perspektiven auf die Welt und Lebensumstände und lässt die Leser*innen immer wieder über ihr eigenes Leben nachdenken. “Wie reich ist dein Leben, jenseits von Kontostand und Statussymbolen?”, “Würdest du dich >weniger wert< fühlen oder sogar >unvollständig<, wenn du weniger Geld hättest? Eine kleinere Wohnung? Ein älteres Auto? Wären wir als Gesellschaft >unfähig zu funktionieren< ohne Auto, ohne Flugzeuge?”. Sie versucht auch immer wieder beide Seiten von Fort- und Rückschritt zu sehen, macht sich Gedanken z.B. über die Forderungen nach dem bedingungslosen Grundeinkommen und sieht in überraschend anderen Bereichen noch sehr viel Potenzial um die innere Armut, die menschliche Armut, die kulturelle Armut in Wohlstand zu verwandeln und gleichzeitig den Umweltschutz, Nachhaltigkeit und die soziale Gerechtigkeit ohne in das “Verzichtshorn zu blasen” voranzutreiben. Und sie versucht, wie auch Richard Wilkinson und Kate Pickett, Antworten auf die Frage “Was ist eigentlich unser Problem, warum geht es uns trotz unseres Komforts, teilweise sogar Luxus, nicht gut?”, Warum leiden wir in den führenden Industrieländern häufig an sozialen und gesundheitlichen Problemen und fühlen uns psychisch überfordert?

Vergleiche tun uns nicht gut, soziale Ungleichheiten schaden uns enorm, stetig wachsende Statusängste, Überlebenskämpfe, Minderwertigkeitskomplexe, gar Narzissmus sind Folgen dieser ganzen Gesellschaftsentwicklung, die gerade vom Messbaren und Monetarisierbaren immer mehr vereinnahmt wird. Ich könnte nun noch ewig darüber reden, denn wenn dieses Buch etwas ist, dann wahnsinnig ausführlich und im Verlauf dieser Lektüre lernt man sehr viel über die andere Form des Wohlstands und warum unser jetziges Leben eine Gefahr für die Ökosysteme, die Menschlichkeit – eigentlich alles, was uns verbindet, darstellt, kennen.

“Es ist nicht effizient, selbst Gemüse anzubauen. Von der Warte des reinen Effizienzdenkens aus ist es viel vernünftiger, nach dem Fitnessstudio schnell im Supermarkt zu halten oder gleich Take-away zu bestellen. Aber wenn wir das Gesamtpaket der Bedürfnisse betrachten, die durch den Eigenanbau von Nahrung und deren Zubereitung gestillt werden, dann ist es hochgradig effektiv. Weil es uns auf mehr Ebenen nährt, als wir jemals messen oder auch nur benennen können.”

Dieses Buch ist eine Erklärung, ein Spiegel, eine Einladung zum Umdenken und das auf so vielen Ebenen. Dittmar schafft es schwierig, komplexe Themen in ganz neuen Zusammenhängen zu sehen, Dinge aufzuzeigen, die falsch laufen und einem als Leser*in bewusst zu machen, dass es einfach viel, viel wichtigeres gibt als Materielles. Und da man sich an vielen Stellen oft wahnsinnig machtlos fühlt oder kaum Auswege erkennt, versucht sie im letzten Teil, ihre Sicht auf eine bessere Welt zu vermitteln. Leider muss ich gestehen, dass mir gerade der letzte Teil hier und da etwas unangenehm war, was dann doch mit sehr unterschiedlichen Ansichten und Glaubenssätzen zutun hat, und dennoch ist dieses Buch (also die ersten 200 Seiten) eine unglaubliche Bereicherung und ein Impuls zur Veränderung, der weit über diese Lektüre hinausreicht und die Zusammenhänge der Welt ganz anders erstrahlen lässt.

“Wir betrachten uns selbst nicht als Teil der Natur. Das Ergebnis ist völlige Beziehungslosigkeit, die zu einer großen Haltlosigkeit führt. Das noch vorherrschende Narrativ unserer Gesellschaft besagt, dass es nicht die Ökosysteme sind, die uns erhalten, sondern das Wirtschaftssystem. Daher betrachtet die Politik es als ihre höchste Pflicht, diese Wirtschaft gesund zu halten, auch auf Kosten der Ökosysteme. Und gesund bedeutet vor allem profitabel und wachsend.”

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Vivian Dittmar – Echter Wohlstand.
kailash.
272 Seiten. 20 Euro. Hardcover.

28. November 2022

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