Roman | “Auf See” liegt die Zukunft oder doch das Ende aller Utopien?

Auf See von Theresia Enzensberger ist ein fast schon Sciencefiction-artiger Roman, in dessen Zentrum sich vieles um eine Stadt der Zukunft, mitten auf dem Meer dreht. Eine neue Gesellschaftsordnung, ein neues, geschütztes Leben und gleichzeitig Unabhängigkeit soll sie bieten. Als ein “beispielhaftes grünes Pilotprojekt, mit dem der deutsche Staat innovative Strategien zum nachhaltigen Leben und Wirtschaften angesichts des ansteigenden Meeresspiegels und anderer drohender Umweltkatastrophen erproben konnte”, das durch private Investitionen gestützt, an einen riesigen Offshore-Windpark gekoppelt, mit zwei Dock- und Essensstationen, einer hochkomplexen Entsorgungsstation, einem riesigen Wellenbrecher und von hochkarätigen Wissenschaftlerinnen, Medizinern und Co betrieben wurde. Vineta – Ein eigener Inselstaat mitten auf dem Meer. Eine faszinierende, sowie irgendwie auch beängstigende Vorstellung, doch was tun, wenn die Welt wirklich einmal im Chaos versinkt?

“Es waren Zukunftspläne aus der Vergangenheit […] Einen geschlossenen Kreislauf hatten sie schaffen wollen, von der Versorgung mit selbstgewonnenen Nahrungsmitteln bis hin zur produktiven Verwertung von Abfällen. Ihr Zeitplan hatte vorgesehen, schon nach fünf Jahren die notwendigen technologischen Fortschritte gemacht zu haben, um autark auf hoher See leben zu können, unabhängig von der jeweiligen Festlandregierung. […] [Doch] Statt diesen großen Visionen zu folgen, dümpelten wir immer noch vor der Küste herum, ernährten uns durch teure Lieferungen vom Festland und warteten auf Tag X.”

Anhand zweier unterschiedlicher Leben lernen wir nun Abhängigkeiten, Hierarchien und Gesellschaftsordnungen, sowie den sehr individuellen Wunsch nach Freiheit und Rückzug kennen. Helena Harold, das Orakel, wie sie von vielen Anhängern bezeichnet wird, ist Teil eines Kollektivs, Künstlerin und lebt in Berlin. Aufgrund einiger erfundener Aussagen, was die Zukunft betrifft und die, zur Überraschung aller, tatsächlich auch eintraten, machte sie sich einen Namen und versammelte viele Menschen um sich. Doch Helena fühlt sich immer mehr überfordert, depressiv, versucht sich rauszuziehen und eine neue Freiheit zu finden. Für die Menschen ist sie und die Orte an denen sie gesichtet wird so etwas wie ein Kult geworden. Aber es gibt ihr nicht nur wohlgesonnene Menschen, Arthur möchte sie aus dem Kollektiv drängen, die Rolle des Anführers übernehmen, die Sekte leiten und Helenas Glaubwürdigkeit infrage stellen.

Und dann ist da Yada, die seit einem Jahrzehnt auf einer Insel in der Ostsee lebt. Ein aus vierzig Waben erbauter Komplex, der sie, ausgewählte Bewohner*innen und die unzähligen Arbeiter*innen vor der von Chaos beherrschten Welt schützen soll. Oder auch überwachen, Kameras sind keine Seltenheit, der Tag wird strikt durch Uhrzeiten und Pläne bestimmt und auch ein Psychologe soll Yada betreuen. Doch Yada wird erwachsen. Sie stellt Fragen, sie fühlt sich eingeengt, möchte die Welt und damit auch die Freiheit kennenlernen. Und gleichzeitig hat sie Angst, dass sie die gleiche, rätselhafte Krankheit zu bekommen, wie schon ihre Mutter, die vor Jahren ums Leben kam. Neuerdings schlafwandelt Yada in der Nacht, wacht morgens mit blauen Flecken wieder auf. Einzig die Überwachungskameras können ihr Auskunft über ihre nächtlichen Ausflüge geben, doch dann macht sie Entdeckungen, die ihr Leben, aber auch das, was ihr Vater alles sagte, ins Wanken bringen…

“Aber es hat sich doch alles geändert. Mein Vater sagt, die Welt, die ich kannte, existiert nicht mehr. Alles zerstört. Die sozialen Unruhen, die Naturkatastrophen, die Epidemien – […] Ich dachte, der Staat ist längst zusammengebrochen? Mein Vater sagt, Überregulation und Kollektivismus führen zwangsläufig dazu, dass ein Staat scheitert.”

Scheitern ist dabei auch so ein großes Stichwort. Untermalt werden beide Handlungsstränge nämlich von Berichten über Utopien und gescheiterten Träume der Menschheit. An sich beschäftigt sich Enzensberger in ihrem Roman mit diesen sehr großen Fragen der Zukunft und DER einen, wenn nicht sogar für viele heutzutage schon sehr elementaren Frage: “Wie geht es weiter, wenn Umweltkatastrophen das Leben an Land nicht mehr lebenswert machen?”. Gäbe es dann wie in diesem Roman von Menschenhand erbaute Inseln auf dem Meer? Und wie würde das Zusammenleben dort aussehen? Könnte man überhaupt eine neue Gesellschaftsordnung ohne Hierarchien erschaffen oder gäbe es nach wie vor dieses Macht- und Abhängigkeitsgefüge. Wie wollen wir überhaupt leben? Doch egal wie man nun denken mag, die ultimative, für alle Menschen optimale Lösung zu finden, ist gar nicht so einfach, vielleicht sogar unmöglich.
Und so deutet auch “Auf See” auf das Ende aller möglichen Utopien (der Geschichte) hin, schon alleine weil alles vollkommen subjektiv ist und Leben für jede*n etwas anderes bedeutet und jede*r andere Ziele hat – dafür kann man in diesem Roman wirklich sehr viele Beispiele finden. Auch dass die persönliche Wahrnehmung oftmals dramatisch eingeschränkt ist, bis man sich nach außen hin öffnet, was gleichzeitig den Zerfall der eigenen Lebensvorstellung fördern kann. Alles bedingt einander, Faszination und Zufall kann zur Anbetung einzelner Personen führen, falsche Entscheidungen zu ungewollten Abhängigkeiten, Macht und Geld zu einem Status, der gehalten werden möchte und ständig neu erkämpft werden muss und nur mit einem wirklichen Plan, scheinen Systeme einer Gesellschaft und Zusammenlebens tragbar und selbst dann wird es noch immer Unterschiede zwischen den Menschen geben.


Dieser Roman zeigt das nahe Bild einer Zukunft, mit sehr dystopischen Zügen, was ihn nicht nur aktuell macht, sondern auch faszinierend. Und doch kratzt Theresia Enzensberger nur an den unzähligen Themenkomplexen und geht nirgends wirklich in die Tiefe. Selbst der Plot scheint wenig von Spannung getrieben, die Geschichte plätschert dahin, mögliche Höhepunkte, werden beinahe in einzelnen Nebensätzen abgearbeitet. So wie z.B. eine der Protagonistinnen aus der ihr bekannten Lebenswelt fliehen möchte und das scheinbar binnen kürzester Zeit und ohne jegliche Mühe machbar ist. Schon verblüffend und gleichzeitig stellt man sich die Frage, worauf Enzensberger den Fokus richtet… der Kampf um die Freiheit kann es schon mal nicht sein, auch wenn er in den 3-5 geschilderten, verschiedenen Lebenswelten immer wieder stattfindet, mal mit mehr Überwachung und Angst, mal mit weniger. Auch die Herauskristalisierung eines Anführers oder die Entstehung einer Sekte (ein, wie ich finde, sehr spannendes Thema) kommt in dem Roman leider auch viel zu kurz. Und das persönliche Innenleben, der Protagonistinnen und ihre Ansichten, Wünsche und Träume… nun ja. Gefühlt ist es eine sehr bunte Mischung aus Möglichkeiten, die mit etwas mehr Umfang und Tiefe diesen Roman zu einer sehr faszinierenden und aufrüttelnden Lektüre in Sachen Gesellschaftssysteme und Zusammenleben hätten machen können, so ist es allerdings ein äußerlich recht schöner, aber sonst eher an der Oberfläche dahinplätschernder Roman mit viel verschenktem Potenzial, so wie dann auch das in ihm geschilderte Gebilde auf hoher See.

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Theresia Enzensberger – Auf See.
Hanser.
272 Seiten. 24 Euro. Hardcover.

4. Oktober 2022

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