“April 2017. Vor zwei Wochen, fast am gleichen Tag wie meine Mutter vor 33 Jahren, hat sich meine Schwester das Leben genommen.”
Eine unvorstellbare Tat, eine bittere Gewissheit, mit der sich Bettina Flitner in ihrem Buch oder besser ihrem Andenken an Meine Schwester auseinandersetzt. Die Nachricht ereilt die Fotografin, als sie gerade mit zwei Freundinnen zusammen war und Oberteile anprobierte. Thomas, ihr Schwager, rief sie an, um ihr vom tragischen Tod ihrer Schwester zu erzählen. Suizid. Er hatte sie neben der Waschmaschine im Bad gefunden. Kaum zu glauben, dass 33 Jahre vorher auch ihre Mutter diesen Schritt gewagt hat und kurz darauf selbst Thomas nur noch diesen Ausweg für sich finden wird. Doch wie geht man mit diesen Schicksalsschlägen um? Was kann man tun um selbst auch nur ansatzweise damit fertig zu werden?
Kurz vor dem sich jährenden Todestag ihrer Schwester, setzte sich Bettina Flitner an ihren Rechner. Eigentlich wollte sie sich mit ganz anderen Dingen beschäftigen, aber nun schien der Moment, sich erneut mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Erinnerungen in Worte zu übertragen, gekommen zu sein. Daraus entstand eine sehr beeindruckende Lebensgeschichte – eine Befreiung.
Gemeinsam mit den Leser*innen wirft Bettina Flitner einen Blick auf ihrer beider Kindheit in den 70er Jahren, die Schulzeit, die gemeinsame Zeit bei den Großeltern, die BRD, das Jahr in New York, die aufregenden, mal eher witzigen und häufig doch auch tief emotionalen Zeiten. Gerade die Depression ihrer Mutter, die ihnen immer wieder sagte, dass sie nicht älter als 47 Jahre alt werde, die kriselnde Ehe der Eltern, die Affären und ihre sexuelle Hemmungslosigkeit, haben tiefe Risse in Bettinas Leben hinterlassen und mit dem Absturz und Tod ihrer Schwester nun noch einmal einen weiteren Tiefpunkt erreicht.
Dieses Buch ist ein sehr offener und persönlicher Einblick in das Leben zweier Frauen, die ihren Weg gingen, oft an den Erwartungen der eigenen Eltern und am Leben scheiterten, rebellierten und ihr Glück suchten. Bettina setzte sich mit dem Visuellen auseinander, starte als Filmemacherin, studierte an der Film- und Fernsehakademie und wurde schlussendlich Fotografin und Schriftstellerin. Ihre Schwester wurde Fitnesstrainerin, wobei dies bereits nach 15 Jahren mit der Kündigung ein bitteres Ende fand, sie von einer Krise und Angst in die nächste stürzte und dann… nun ja.
“>Darin sind wir beide< […] Meine Schwester hatte alles in den kleinen Koffer getan. Den Puppenkoffer, rot mit weißen Punkten. Dann hatte sie ihn verschlossen. Sie gibt ihn mir vier Monate vor ihrem Tod. Sie hat schon den Mantel an. Sie sagt: >Damit du dich erinnerst.<“
Dieses Buch ist so eine kleine Erinnerungskiste, gefüllt mit vielen Beschreibungen einzelner Lebensstationen und tragisch traurigen, wie skurrilen und witzigen Momenten, die Bettina mit ihrer Schwester geteilt bzw. erlebt hat. Daher tue ich mich nun auch etwas schwer, das Ganze zu beurteilen, denn persönliche Beschreibungen, intime Einblicke und in diesem Fall auch die Aufarbeitung der schweren Verlusten ihres Lebens sind immer was ganz besonderes, aufwühlendes, sehr einzigartiges und so wie jeder Mensch tickt, denkt und die Welt sieht, etwas grundverschiedenes, das mal mehr, mal weniger für andere (nach-)fühlbar ist. Den Hauptteil dieses Buches macht, wie der Titel es erahnen lässt, die Nähe zu ihrer Schwester aus. Teilweise mehr berichtend und beschreibend erzählt sie von ihrer Familie und dem eigenen Werdegang. Und auch wenn es ein sehr interessanter Blick aufs eigene Leben ist, so war es mir dann teilweise doch zu wenig Innenansicht und zu viel Beschreibung, Abläufe und bildhafte Detailgenauigkeit, wobei sich gerade in diesem Punkt Flitners Liebe zur Fotografie wieder deutlich zeigt.
Vom ganzen Buch haben mich irgendwie gerade die ersten und die letzten Seiten, sowie der Verlust der Mutter ganz besonders mitgenommen, denn hier sind für mich der Schock und die Brutalität der Nachricht vom Suizid der eigenen Schwester bzw. Tochter und Frau und was das bewusst gesetzte Ende des einen Lebens für Auswirkungen auf die der anderen hat, welche Fragen es aufwirft, die Hilfsbedürftigkeit der Angehörigen und was für ein Kampf es ist, damit klar zu kommen und wieder zurück ins normale Leben zu finden am deutlichsten spürbar.
“Meine Fragen habe ich nicht beantwortet bekommen. Im Gegenteil. Es sind noch mehr Fragen hinzugekommen. Aber vielleicht ist es ja so, dass die Fragen wichtiger sind als die Antworten. Eins aber hat sich grundlegend verändert. Schon als ich schrieb, habe ich es gemerkt. Das Gefühl des Ausgeliefertseins wich. Es wurde leichter, immer leichter.”
Ich danke Bettina Flitner für ihre Offenheit, den Rückblick auf ihren Werdegang, den Mut, sich mit allem erneut auseinanderzusetzen, Kleinigkeiten zu deuten, ihrer Schwester ein Andenken zu setzen und sich selbst so verletzbar zu zeigen. Gerade dadurch ist “Meine Schwester” zu dieser sehr reflektierten, ehrlichen, manchmal auch komischen und eben sehr bedrückenden, aufwühlenden und berührenden Erinnerungsaufzeichnung geworden. Ein sehr wertvolles Andenken, das mich trotz meiner kleinen Nörgelei, noch sehr lange beschäftigen wird.
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Bettina Flitner – Meine Schwester.
Kiepenheuer & Witsch.
314 Seiten. 22 Euro. Hardcover.
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