“Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren. Alles wird dir weggenommen: Zuerst verlierst du deine Jugend, dann deine Eltern, dann verlierst du deine Freunde, und am Ende verlierst du dich selbst.”
Ich weiß nicht, wie es euch bei diesen Zeilen geht, aber mich hat dieser erste Absatz in Sarah von Scott McCalanahan, zutiefst getroffen. Bereits nach diesen Zeilen wurde ich von Scotts semiautobiografischem Roman gedanklich komplett in den Bann gezogen und ich wusste einfach, dass ich dieser Aussage auf den Grund gehen will. Nein, ich musste es, denn dies ist ‘mein Buch’. Eindeutig. Ich musste seine Geschichte lesen, komme was wolle!
Bei Sarah handelt es sich grob gesagt um das Andenken an eine Beziehung. Sehr amerikanisch und sehr direkt berichtet Scott von seinem Leben mit Sarah und ihren gemeinsamen Kindern Iris und Sam. Dieses Buch beginnt an einem Tiefpunkt. Scott und Sarah haben sich scheiden lassen. Er scheint alkoholabhängig und führt stets eine Wasserflasche mit Gin gefüllt mit sich. Als er während der Autofahrt trinkt, fallen ihm plötzlich die Kinder auf der Rückbank wieder ein und alles nimmt dann so seinen Lauf. Er wird von der Polizei angehalten und versucht die Situation noch in den Griff zu bekommen, doch er weiß für sich, er hat alles was ihm wichtig ist bereits verloren. Die Kontrolle über sein Leben. Sarah ist sein Lebensmittelpunkt. Seine bessere Hälfte, doch die für ihn plötzliche Scheidung hat ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Er versucht Sarah zu verstehen, zurückzugewinnen, driftet erneut ab in die eher krankhafte Eifersucht, übernachtet im Auto und beobachtet tagelang Drogengeschäfte und Absurditäten auf dem Walmart-Parkplatz. Scott treibt und sucht nach seinem Rettungsring. Er scheint sich zu verlieren, alles zu verschlimmbessern und doch kehrt irgendwann Alltag und eine neue Liebe ein. Doch es wird nie wieder so werden wie es einst war.
“Ich sah die Zukunft, in der ich Fernseher kaufte und mich umbrachte. Ich sah, wie ich Häuser kaufte und mich umbrachte. Ich sah mich in einem Job, den ich hasste, und sah all die winzigen Selbstmorde, aus denen das Leben bestand. Ich wusste, dass es eine Million Arten gab, sich umzubringen, und ich konnte es nicht erwarten, sie alle auszuprobieren.¹”
Für mich war dieses Buch eine wahnsinnige, rührende Achterbahnfahrt der Gefühle. Auch wenn ich Scott für extremst durchgeknallt halte und er mich mit seinem stets präsenten Alkoholproblem, seiner Eifersucht und seinen abstrusen Aktionen teilweise sehr zur Weißglut gebracht hat, liebe ich dieses Buch ungemein. Es ist ein absolut ehrlicher und berührender Lebensausschnitt, ein Auszug aus einer sehr schwierigen Zeit des Autors selbst. Gespickt mit vielen kleinen Augenblicken, Gedanken und Bildern ergibt dieses Buch so etwas ganz besonderes, das ich in dieser Form noch nicht gelesen habe. Gut, im Vergleich zu anderen Literaturbegeisterten, habe ich vielleicht noch nicht ganz so viel gelesen, aber selten zeigt sich jemand auf diese Weise an seinem verletzlichsten, schmerzhaftesten Punkt. Normalerweise würde man hier und da etwas beschönigen, vielleicht ist es hier auch geschehen, denn es handelt sich schließlich ‘nur’ um ein semiautobiografisches Buch, und doch spürt man seine Verzweiflung und den Tiefpunkt seines Lebens beinahe auf jeder ‘fucking’ Seite. Und das hat mich sehr bewegt und zutiefst getroffen.
Ich habe dieses Buch inhaliert und wollte nie, dass es endet. Gut, zuerst habe ich einen dramatischeren ‘Ausgang’ als diese vollzogene Scheidung erwartet, und dachte die ganze Zeit, dass da noch ein gewaltigerer Abgrund mit jeder Seite näher kommt. Aber ich weiß auch nicht, wie ich mit einem dramatischeren Ende umgegangen wäre. Die Scheidung und das ganze Drumherum hat dieses Buch für mich so menschlich, nachvollziehbar, so ‘es könnte jeder Schwerverliebte sein’ gemacht und das war echt krass. Und dann gibt es zwischendrin immer noch einmal diese kleinen Fotos und irgendwie erschafft Scott dadurch so wahnsinnig viel Nähe. Mir fehlen die Worte und ich kann es euch an dieser Stelle nur noch ans Herz legen. Scott Mc Clanahans Sarah ist ein großartiges Buch und lohnt sich sehr!
“¹ Ich bin mir sicher, dass es irgendwo einen Buddhisten gibt, der sagt: Alles Leid kommt von Verlangen und vom Glauben, Dinge besitzen zu können, aber in Wahrheit besitzen wir nichts im Leben.
Und ich sag dem Buddhisten Folgendes: FUCK YOU, BUDDHIST.”
Scott Mc Clanahan – Sarah.
Aus dem Amerikanischen von Clemens Setz.
ars vivendi.
206 Seiten. 22 Euro. Hardcover.
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