Zeig mir dein Innerstes und ich helfe dir wieder zu leben.

Wie wäre es, wenn man in das Bewusstsein anderer eintauchen und sich direkt mit den Gefühlen, Eindrücken und Bildern derjenigen auseinandersetzen könnte? Wäre dies eine Möglichkeit zu Traumapatienten einen neuen Zugriff zu bekommen und ihnen zu helfen ihre Ängste zu überwinden, Geschehnisse neu zu verarbeiten und sich verstanden zu fühlen? Genau dieser Frage oder besser gesagt diesem Ansatz geht Lisa in Peter Høegs Roman “Durch deine Augen” nach. Als Professorin ihrer eigenen Forschungseinrichtung hat sie eine neuartige Möglichkeit gefunden mittels Hologrammen und Scans die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Patienten erlebbar zu machen.
Auch Peter hat von dieser neuen Therapiemethode gehört und nimmt zu Lisa Kontakt auf. Sein Bruder hat versucht Selbstmord zu begehen und befindet sich nun stationär in einer psychiatrischen Klinik. Peter möchte ihm helfen, wieder zurück ins Leben zu finden, doch dies ist leichter gesagt als getan. Die drei kennen sich sogar schon aus dem Kindergarten. Doch dies ist Lisa gar nicht im Gedächtnis geblieben, denn aufgrund eines schrecklichen Unfalls hat ihr Bewusstsein beinahe all ihre Erinnerungen bis zu ihrem 7. Lebensjahr gelöscht. Durch die Therapie kommen sie sich näher und erzählen sich Geschichten aus Kindertagen. Anscheinend hatte Lisa schon früher das Talent in Träume anderer einzudringen und damit auch ein Stück weit die Zukunft zu beeinflussen… Doch die Frage bleibt: Was ist eigentlich noch Erinnerung, was Erzählung und vor allem was ist die wirkliche Wahrheit?

 

“Wichtig ist, ob die Geschichte ihr hilft. Ob es bei dem, der erzählt, etwas heilt. Wir suchen nicht die Wahrheit. Wir verhelfen den Menschen zu einer Geschichte, mit der sie leben können.”

 

“Durch deine Augen” ist für mich mal wieder ein Roman, der zahlreiche Denkanstöße liefert. Auch wenn es für heutige Verhältnisse noch etwas verrückt klingt in andere Menschen einzutauchen und mittels einfachen Helmen miteinander verbunden zu werden, so ist bereits die Vorstellung recht imposant. Und die Beziehung zwischen eigentlich Fremden würde so aufs Innerste hinausgehen. Was wäre alles möglich? Und vor allem wie würden die Erkenntnisse, darüber wie intensiv der andere wirklich fühlt, ausfallen? Jeder geht mir Erlebnissen anders um. Jeder hat ein anderes Gefühls-, Trauer, Schmerzempfinden, gar eine andere Wahrnehmung. So könnte man auch untersuchen, welche Ereignisse sich in das Bewusstsein des Menschen eingebrannt und ihn verändert haben. Genauso spannend finde ich die Frage ob, Träume wirklich Einfluss auf die Zukunft nehmen und uns vor Dingen schützen, beeinflussen oder gar von etwas abhalten könnten. Lisa schafft es mit ihren Freunden bewusst in Träume anderer einzudringen, sie in andere Richtungen zu lenken und damit auch die Zukunft zu beeinflussen. Träume sind allerdings so flüchtige Erscheinungen, die je nach Intensität direkt nach dem Aufwachen vergessen werden und doch sind sie verarbeitete Filme der abgespeicherten Erlebnisse des Unterbewusstseins. Und damit stellt sich dann natürlich auch die Frage, wenn wir jemandem von unseren Erinnerungen erzählen, inwieweit das Berichtete sich wirklich so zugetragen hat und ob wir uns die Dinge schön reden, sie vergessen, sie anders bis gar nicht wahrgenommen haben oder uns damit selbst einfach nur beruhigen wollen.

 

“Vielleicht sind wir dazu geschaffen und aufgewachsen, in uns selbst zu verharren. In unserer Persönlichkeit. Vielleicht kann keiner die Reise ins Unbewusste überleben. Vielleicht gibt es keine Reise. Vielleicht brennen die Sicherungen des Nervensystems durch, […] und man tritt aus sich selbst heraus.”

 

Eher ruhig und sachlich schafft Peter Høeg es den Leser an dieses Gedankenexperiment heranzuführen. Dabei schafft er zwei ‘Behandlungsräume’ in verschiedenen Zeitebenen. Während in der gegenwärtigen Situation hauptsächlich die Beziehung und Therapiemöglichkeit einzelner traumatisierter Patienten aufgezeigt werden, spielt sich in den Erinnerungen bzw. den Rückblenden in die Kindheit der Protagonisten hauptsächlich die Frage nach der Beeinflussung der Zukunft ab. So wie im echten Leben, bergen die einzelnen Therapiesitzungen jeweils sehr aufwühlende Ereignisse über die Høeg ohne in Absurditäten abzudriften ganz klar und unverblümt erzählt. So entsteht dann auch insgesamt ein fiktives und dennoch so kluges und real mögliches Bild, welches ich wirklich gerne entdeckt habe. Ich kann zwar nicht sagen, dass es für mich ein absolutes Highlight mit Wow-Effekt war, aber dieser Roman hat mich wirklich gut und vor allem auch gedanklich unterhalten.

 

Peter Høeg – Durch deine Augen
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Hanser.
24 Euro. 336 Seiten. Hardcover.

//Leseexemplar

21. Februar 2019

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