Die Angst vor dem Vergessen

“Erinnern kann wie eine unbarmherzige Sonne sein, die schonungslos ihr Licht auf die Vergangenheit wirft. Dabei kommt oft auch Unschönes zu Tage. Wenn ihre Strahlen auf eine glatte Fläche treffen, werden sie nur Langweiliges zu Tage fördern. Ist die Vergangenheit jedoch rau und bewegt wie das Meer, kommt vielleicht ein Kunstwerk zum Vorschein”

 

Genau so ein Kunstwerk ist Der Insulaner für mich. Es ist eine Mischung von Aufs und Abs die das Leben betreffen. Oft sehr leise und betrübt, manchmal imposant und mächtig. Nicht unbedingt mächtig in den eigenen Taten, mächtig in der Bedeutung. Über dieses Buch bin ich vor geraumer Zeit schon einmal gestolpert und es hat mich irgendwie sofort fasziniert. Sei es durch das wirklich schöne Cover oder weil es sich hierbei um einen recht gewaltigen autobiographischen Roman von Henning Boëtius handelt.

 

“das eindrückliche Portrait eines bewegten Lebens, einer fast schon versunkenen Zeit, einer ganzen Welt. Und nicht zuletzt: eine einzigartige Liebeserklärung an die Kunst und an das Meer.”

 

Ein Tumor im Gehirn. Eine wirklich schlimme Nachricht, die niemand gerne hören möchte. Doch danach geht es nicht immer. Eine Untersuchung stellt nämlich beim Protagonisten B. einen solchen Fremdkörper im Kopf fest und gerade dies lässt ihn sein Leben noch einmal durchleben. Als er sich nämlich dazu durchgerungen hat, sich operieren zu lassen, wird dem Schriftsteller klar, dass dadurch sein Erinnerungsvermögen leidet oder gar gänzlich ausgelöscht werden könnte. Dies führt ihn zu einem Analytiker, dem er vor er großen Operation sein beinahe ganzes Leben noch einmal erzählen möchte. Bei regelmäßigen Terminen spricht er so persönlich oder in ein Aufnahmegerät über seine gesamten Erinnerungen. Sein Leben. “Von den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs über die Wirtschaftswunderjahre und die rebellischen 60er Jahre bis in die Gegenwart.”

 

“Ich habe Angst. Nicht, mein Leben zu verlieren, sondern mich an nichts mehr erinnern zu können. Alles zu vergessen, was meine Identität bedeutet. Dabei ist Vergessen sicher wichtig, auch um Erinnerung den nötigen Platz zu geben.”

 

Ich hatte damals bereits in einer der wenigen Online-Rezensionen gelesen: “entweder mag man oder hasst man dieses Buch”. Ich konnte mir darunter noch recht wenig vorstellen, zumal es thematisch und inhaltlich wirklich vielversprechend klingt. Nun, nach einiger Lesezeit, glaube ich zu wissen was sie meint. Ich habe dieses Buch nicht beendet, um nicht zu sagen vorzeitig abgebrochen. Das ist zwar nicht sonderlich schlimm, da man sich auf manche Bücher einfach nur zu bestimmten Zeiten einlassen muss oder kann. Und wenn mich jemand fragt, kann ich auch nicht sagen, dass es mir nicht gefällt. Ganz und gar nicht, denn zu sehr liebe ich Boëtius Sprache. Diese eher leise Erzählung über Erinnerungen eines Lebens sind wirklich sehr schön, gedankenvoll und verständlich.
Erinnerungen an den Krieg, fernab der großen Hauptschauplätze. Erinnerungen an einen Vater, den er als Kind kaum kennenlernte und der doch irgendwie da war. Erinnerungen an die Entwicklungen und Veränderungen des Lebens, die Geschichte einer Insel, den Fortschritt und natürlich ganz viel über den Protagonisten selbst. Über ihn und seine Ängste, Hoffnungen, sein Leben.
Die Schwere in der erzählten Ruhe macht diesen Roman auf die Dauer allerdings recht anstrengend und dazu braucht man einfach die richtige Zeit, Muße und Phase. Ich besitze trotz Begeisterung für das Gelesene diese Ruhe aktuell nicht, sodass ich leider nur Abschnittsweise vorangekommen bin und andere Bücher zwischengeschoben habe. Sicherlich werde ich zu geeigneter Zeit hier wieder ansetzen und ich freue mich jetzt schon darauf, in B.’s Erinnerungen eintauchen zu dürfen, aber für den Moment wandert es leider nur so halb gelesen wieder zurück ins Regal. // Nachtrag vorgemerkt.

 

“B. hatte nicht bemerkt, dass sein Zuhörer den Raum verlassen hatte. Zu sehr war er versunken gewesen in sein Erzählen, in diesen somnambulen Zustand zwischen Wachheit und Schlaf, zwischen Tod und Leben.”

 

Henning Boëtius – Der Insulaner
btb.
958 Seiten. 26 Euro. Hardcover.

5. September 2018

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