Ein Buch für die Verlorenen und Vergessenen

Die Stadt aus Rauch von Svealena Kutschke ist ein Jahrhundertroman, der sich mit dem Leben der Menschen der Hinterhöfe, hinter den prunkvollen Fassaden beschäftigt. Für mich als Lübecker ist dieses Buch nahezu Pflichtlektüre. Gut, ich gebe zu Buddenbrocks und Thomas Mann oder Günter Grass nie gelesen zu haben, aber dieser Roman ist auch einfach anders – Ergreifender, faszinierender, ehrlicher.

“Die Straßen waren erleuchtet, als wären sie in Brand gesetzt. auch die düsteren Gassen und Hinterhöfe, sogar die sargschmalen Tunnel, die zu den Hinterhäusern führten und immer dunkel und klamm waren, wurden unbarmherzig ausgeleuchtet.”

Innerhalb dieses Romans lernen wir drei Generationen einer Familie kennen. Diese könnten für mich nicht ähnlicher und unterschiedlicher zugleich sein. Es ist zwar der jeweilige Ausschnitt einer Generation, der abwechselnd dargestellt wird, dennoch schwingen recht viele Emotionen und Gedanken mit. Ein jeder von ihnen kämpft ums Überleben und Gesehenwerden und irgendwie spielt auch der Teufel daran keine unscheinbare Rolle. Dieser hängt nämlich seit dem Mittelalter in Lübeck fest und weiß einfach nicht warum. Er möchte so gern die große Welt sehen und mehr erleben, aber irgendetwas hält ihn fest. Vielleicht ist Teufel sogar die tragischste Figur des Romans. Ihm schreibt man das Verderben zu, aber eigentlich ist er nur ein Gefangener innerhalb der ganzen bösartigen Misere.

“Lucie ging nicht in die Schule, sie war weder getauft noch gemeldet, offiziell existierte sie nicht. Lucie war dem Tod abgerungen, man könnte sagen, sie war ein Wunder, man könnte auch sagen, sie war ein Fluch. Sie war gefährdet und gefährlich zugleich.”
“Jessie saß an diesem Ort, der Grab und Wiege ihrer Familie war, und hatte selbst keine Geschichte. Alles an ihr war schon geschehen. Sie war diejenige in er Familie, die nicht geschah.”
“Es wäre der passende Moment gewesen, eine Lebensmüde vom Ufer wegzufischen. Aber niemand sah Magdalena. Das Licht der Sterne kann man noch Jahrhunderte nah ihrem Erlöschen sehen. Magdalena war schon verschwunden, bevor die Trave sie geschluckt hatte.”

Man kann eigentlich gar nicht so viel sagen, obwohl so viel spannendes passiert. Krieg, Tod, Teufel, Angst, Liebe, Schmerz, Aufgabe, Vergessen, Fiktion und Realität… Dieser Roman ist so unwahrscheinlich vielschichtig, dass man beinahe sagen könne, Kutschke hat mit der Stadt aus Rauch ein Meisterwerk geschaffen. Ein Meisterwerk, gewidmet den Verloren und Vergessenen, der Stadt. Teilweise, vor allem bei der jüngsten Generation, war mir das Konstrukt ein Hauch zu viel, aber es zeigt auch, wie unterschiedlich verschiedene Jahrgänge mit ihrer Situation versuchen umzugehen.
Normalerweise bin ich kein Freund dicker Bücher, aber dieser Roman hat es durchgehend geschafft mich zu fesseln und zu beeindrucken. Ich kann ihn eigentlich fast jedem ans Herz legen und statt jetzt noch viel drum herum zu reden…

 

Stadt aus Rauch – Svealena Kutschke
Eichborn Verlag.
672 Seiten. 24 Euro. Hardcover.

 

Photo by Tim Marshall

3. März 2018

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