Die Corona-Krise hat uns allen so einiges abverlangt. Die alten Gewohnheiten wurden von jetzt auf gleich über Bord geworfen, viele haben sich neben dem Job von zuhause aus intensiv um ihre Kinder kümmern müssen, hatten plötzlich gar keine Anstellung mehr oder saßen in ihren vier Wänden fest. Andere verloren sich aufgrund der vielen Einschränkungen in Hoffnungslosigkeit und Angst. Und wieder andere sahen diese Zeit der Ruhe als eine Art Neustart und Raum der Möglichkeiten. Es kam vieles zusammen und gerade die Veranstaltungs- und Kulturbranche hat sehr unter den Einschnitten gelitten. Künstler*innen, die normalerweise tagtäglich vor gefüllten Hallen spielen, tausende Menschen Abend für Abend mit ihrer Musik oder Show beglückten, sahen sich plötzlich mit der Stille konfrontiert. Doch wie ergeht es Künstlerinnen, die von heute auf morgen nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, in ihre Wohnung zurückgedrängt werden und dabei nicht nur unter den normalen Kontaktbeschränkungen, sondern auch unter der Trennung von ihren Fans und dem direkten Feedback, ja mehr oder weniger, leiden?! Künstler*innen, Musiker*innen und Artist*innen leben (neben den Einnahmen) vom Applaus und von der Begeisterung ihrer Fans und den Kulturinteressierten. Für den Pianisten Igor Levit blieb mit Beginn der Pandemie förmlich die Welt stehen. Sein ständiges Verlangen zu spielen und seine innere Unruhe ließen ihn in dieser Zeit neue Wege beschreiten, denn nichts ist für ihn und für andere Künstlerinnen so fatal und belastend wie Stillstand, Ruhe und Isolation. Und so spielte er dann auch weiterhin, versuchte über die Socialmedia Plattform Twitter auch weiterhin sein Publikum zu erreichen und mit ihnen die Musik zu teilen. Was zunächst noch recht einfach und aus einem Impuls heraus begann, wurde binnen kürzester Zeit zu einer festen Größe und Igor Levits Hauskonzerte zum Tageshöhepunkt für hunderttausende Zuschauer*innen.
In dem Buch “Hauskonzert” von Igor Levit und Florian Zinnecker geht es nun um genau diese für ihn sehr bewegende Zeit. In einer Mischung aus Interview und Bericht schildert Zinnecker sehr eindrucksvoll was in den Gedanken des Jahrhundertpianisten Levit vorgeht, wie er sich ständig neu (er)findet, positioniert und von welcher Unruhe er getrieben wird. “Was bliebe, wenn man jemandem, der so Klavier spielt, das Klavierspielen nimmt? Ginge das überhaupt? Wie hält es jemand, der so spielt, mit sich selbst aus?” sind dabei die Kern- und Ausgangsfragen dieses Buchs und wie man es sich bereits vorstellen kann… nein, das ginge nicht so einfach. Levit, der sich immer wieder neu herausfordert, eine ständig (neue) Auseinandersetzung mit der Musik fordert, schuf für sich mit den Hauskonzerten ein Ventil, das ihn am Leben hält und seinem Tag einen Sinn verleiht. Und das eben so ganz privat, losgelöst und von zuhause aus. So entstehen dann auch ganz intime Momente, die nicht nur ihm in dieser schwierigen Zeit halfen und einen Grund lieferten zu spielen, sondern auch Tausenden, die weltweit zeitgleich mit seinem Klavierspiel in Kontakt traten, ein Stück weit die Welt der klassischen Musik entdeckten und dabei noch Trost, sowie Halt fanden. Dieses unabhängige Gemeinschaftsgefühl und die tägliche Verbindung zwischen dem Musiker, seinen Gedanken, der Musik und den Zuhörer*innen war gerade in dieser Zeit etwas ganz besonderes.
“Ich weiß, das Leben ist kein Konzertsaal. Aber Musik ist Leben, wir alle hier zusammen, Sie hören mir zu, ich höre Ihnen zu. Einander zuhören – das ist Zivilisation. Die große Musik, die wir teilen, erschafft ein Band zwischen uns und erinnert uns an das Beste, das menschliches Leben erschaffen und miteinander teilen kann.”
Sein Werdegang ist dabei jedoch nicht ganz zu vernachlässigen. Dieses Buch zeigt nicht nur wie üblich die Höhen und Resultate seines Werdegangs, es eröffnet auch einen Blick auf die Herausforderungen und Tiefpunkte in Levits Leben. Auch wenn man nun meinen könnte ein Jahrhundertpianist und der gefragteste Beethoven-Interpret, der mit dem besten Studienabschluss an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und seit dem die verschiedensten Preise und Auszeichnungen für einzelne Variationen, sein politisches Engagement und Wirken erhielt, hat unwahrscheinliches Talent bewiesen und Glück gehabt. Ja, sicherlich, aber dahinter stehen eben auch sehr viele Tiefpunkte, Lehrerwechsel, (Selbst-)Zweifel, Anfeindungen und Hasstiraden. Sein Weg dahin verlief bisher alles andere als gradlinig. Und gerade durch seine Herkunft und seinen Glauben sieht er sich häufig mit Antisemitismus, Hass und Wut konfrontiert. Das geht sogar soweit, dass Levits Management nach einem Talkshow-Auftritt Morddrohungen erhielt. Aber Levit lässt sich dadurch nicht einschüchtern und erhebt auch weiterhin an der Seite der Demokratie seine Stimme gegen Unrecht, Antisemitismus, Rassismus, Menschenhass in jeglicher Form und setzt sich für eine gerechtere, klimafreundlichere Welt ein.
“DAS ALSO IST die Geschichte, Igor Levit, 32, nicht ausgelastet damit, Jahrhundertpianist zu sein, und zugleich völlig erschöpft davon. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, und über Monate auch erst einmal auf der Suche nach der Frage selbst: Wer bin ich, und was soll ich tun.”
Was ich an diesem Buch so liebe und zeitgleich so faszinierend finde, ist der ungeschönte Einblick in das Leben dieses Supertalents. Auf der einen Seite begleitet man Igor Levit auf Konzerte oder seinen 33. Geburtstag, auf der anderen beschreibt er seine Empfindungen über die ersten Anzeichen der Pandemie, seine Zweifel und Überforderung mit dieser für ihn sehr schwierigen Zeit, es folgen politische Anmerkungen, kleinere und größere Aufreger, tiefgründige Gedanken, Ausschnitte aus seiner Vergangenheit, die Bedeutung der Musik… Ich hatte mit jeder Seite das Gefühl ihm als Person näher zu kommen, ihn zu verstehen und eben das auch zu fühlen. Den Menschen hinter der Musik kennenzulernen. Ich fand es großartig, wie reflektiert Levit mit sich selbst ins Gericht geht, sich selbst aber auch häufig einfach so impulsiv neu herausfordert und vieles einfach nur geschieht, weil er gerade Bock darauf hat. Worte wie “Ich habe in dieser Zeit – vielleicht zum ersten Mail überhaupt – gespürt, dass ich kein Fake bin. Dass ich nicht nur so tue, als ob. Ich habe mir zum ersten Mal selbst geglaubt, dass ich Pianist bin.” oder “Es gibt aber kein >Koste es, was es wolle<. Es gibt Kosten, die sich mit Geld nicht decken lassen. Ich will auch keinen Trost – es gibt nichts zu trösten. Wir alle, die wir von der Musik leben, wurden unserer Existenz beraubt. Und nochmal: Daran ist kein Politiker schuld, daran ist niemand schuld, nur die Zeit selbst.” haben mich z.B. sehr beeindruckt. Levit ist so herrlich bodenständig und bricht doch hier und da häufig einfach mal aus, mal mehr trotzig und kindlich, mal mehr aus Lust sich herauszufordern oder eben seine Meinung kundzutun. Und so ganz nebenbei lernt man die Musik einfach mehr zu schätzen. Durch ihn habe ich nun begonnen klassische Stücke zu hören und auf mich wirken zu lassen. Und wenn man dann immer an seine Worte denkt, ergibt es so ein herrlich bewegendes Gesamtbild, das mich emotional zwar hin und wieder auch überfordert, aber auch neugierig macht. Ich kann dieses Buch so auch in keine Schublade packen, es ist mehr ein verbindendes Element zwischen der Musik, der Emotion, unterschiedlichsten Gedanken und den Herausforderungen der heutigen Zeit. Und dann ist da eben noch Levit, der einem fast freundschaftlich aus seinem Leben erzählt, von Höhen und Tiefen berichtet, teilweise gar eine Vorbild- und Mut-mach-Funktion einnimmt.
“es gab in meinem Leben einige Komplettabstürze, aber ich habe daraus gelernt. Ich fange einfach immer wieder an. Wenn ich etwas nicht kann, stört es mich nicht, ich freue mich, dass ich etwas Neues gefunden habe, und fange einfach an zu arbeiten.
Ich sage nie: Scheiße, ich bin abgestürzt. Sondern: Ich will noch höher.”
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Igor Levit und Florian Zinnecker – Hauskonzert.
Hanser.
302 Seiten. 24 Euro. Hardcover.
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