Bist du Opfer oder Beute? Die grausame Geschichte und “Das wirkliche Leben”

Das wirkliche Leben von Adeline Dieudonné ist ein Buch, auf das ich mich schon lange gefreut habe. In Frankreich wurde dieser Roman zum Liebling der Buchhändler*innen und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Nun erscheint diese bedrückende Coming-of-Age-Geschichte auch auf deutsch und was soll ich sagen? Ich habe das Buch eher mit gemischten Gefühlen beendet, aber eins nach dem anderen.

“Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver.”

Doch das ist nicht alles, was dieses kleine Haus am Waldrand einer Reihenhaussiedlung so anders macht. Man erahnt vielleicht… der Vater hat eine blutrünstige Leidenschaft. Er ist begeisterter Jäger und so tummeln sich die kuriosesten Tierpräparate in seinem Sammlungszimmer. Eine ausgestopfte Hyäne, ein Stoßzahn eines Elefanten, zahlreiche ausgestopfte Köpfe und ein Bärenfell auf dem Sofa, auf dem er allabendlich die Nachrichten über sich ergehen lässt und zu seinem Whisky greift. Zum Leidwesen der bereits verängstigten Mutter und der beiden Kinder hat er zuhause das Sagen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, so passiert dann eines Tages vor dem Haus eine Tragödie. Eine Explosion, die das elf Jahre alte Mädchen und ihren kleineren Bruder traumatisieren und in verschiedene Richtungen treibt. Während Gille sich in sich zurückzieht und Gefallen am Leiden der Tiere findet, möchte seine Schwester einfach alles tun, um sein Lächeln zu bewahren. Sie will eine Zeitmaschine erfinden, das Geschehene ungeschehen machen und ihren Bruder wieder zu dem aufgeweckten, liebenswürdigen Jungen zu machen, der er einmal war. Aus ihrem utopischen Plan wird schnell ein grausiges Spiel. Sie muss sich nicht nur um ihren Bruder bemühen, sondern sich auch den grausamen Ideen des Vaters unterziehen. Sie muss kämpfen, für sich, für ihren Bruder, für ihre Familie… doch was wird sie am Ende sein? Welche Rolle wird sie am Ende einnehmen? Opfer, Beute oder doch die Heldin des Romans?

“Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde.”

Dieses Buch hat in Hinblick auf die erhaltenen Auszeichnungen sicherlich seine Berechtigung. Dennoch ist es für mich etwas fraglich, zumal ich es häufig mit den Romanen “Harz” von Ane Riel und “Was man sät” von Marieke Lucas Rijneveld  verglichen habe und dieses Buch konnte den Vergleichen einfach nicht Stand halten. Die Geschichte zieht sich zu Anfang sehr in die Länge. Und ich habe mich so ein bisschen gelangweilt bzw. mir kam sehr vieles bekannt vor. Es passieren dann zwar hier und da etwas gewalttätige Schnitzer, aber so wirklich fordernd und überrumpelnd wird dieser Roman erst im letzten Viertel. Und das fand ich dann irgendwie schade. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Dieudonné sich mehr auf diese angekündigte Tragödie fokussiert bzw. diese ausarbeitet und diese Hatz- und Waldszene und alles was in der Familie passiert und zu Grunde geht viel, viel umfassender darstellt. Diese Ausflüge in Richtung sexuelle Anziehungskraft oder Drang des Mädchens eine Zeitmaschine zu bauen, Physikstunden zu nehmen und und und waren für mich dann eher so Randgeschichten, die zum Ende hin irgendwie ihre Bedeutung verloren. Es ist eine faszinierende Geschichte, keine Frage, und für viele ist es bestimmt auch genau das richtige Maß an aufwühlenden Erlebnissen, Einblicken in das Gedankenleben der Protagonistin und Spannung, aber für mich war es insgesamt nicht ganz rund und ich fürchte dieser Roman hat durch die Übersetzung auch so einiges an der “funkelnden Sprache” eingebüßt. Die Geschichte ist gut, liest sich sehr schnell und man kann sicherlich tolle Szenen und Elemente finden, aber für große Begeisterungsstürme reicht es bei mir dann leider nicht.

“Es gibt Dinge, die man einfach nicht akzeptieren kann. Weil man sonst daran krepiert. Und ich wollte nicht sterben. Denn ich bekam gerade erst eine Ahnung davon, wie schön das Leben sein könnte, wenn einem nicht ständig ein alter Mann mit zerfetztem Gesicht im Kopf herumspukte.”

//Adeline Dieudonné ist Dramaturgin und Theaterschauspielerin. Sie schrieb bereits mehrere preisgekrönte Erzählungen und erfolgreiche Theaterstücke. “Das wirkliche Leben” ist ihr Debütroman und erschien 2018 in Frankreich. Dort wurde ihr Buch bereits zahlreich ausgezeichnet und ist nun in der deutschen Übersetzung von Sina de Malafosse auch auf dem deutschen Buchmarkt erhältlich.

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Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben.
Aus dem Französischen von Sina de Malafosse.
dtv.
240 Seiten. 18 Euro. Hardcover.

29. April 2020

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