Beklemmend, düster, überrumpelnd – von der Geschichte in der Geschichte, von “Melmoth” und Sarah Perry

Das neuste Werk “Melmoth” von Sarah Perry ist ein sehr aufwühlender Roman. Dies hat allerdings weniger mit der Geschichte der Protagonistin selbst zutun, denn obwohl Helen Franklin in Prag auf ein seltsames Dokument stößt, in dem von einer mysteriösen, angsteinflößenden Frau die Rede ist, und sie sich seitdem verfolgt fühlt, sind es eher die eingeschobenen Manuskriptfragmente, Briefe und Erinnerungen, die hier mit einer großen Intensivität hervortreten. Aber eins nach dem anderen…

“Während der vergangenen zehn Tage konnte ich an nichts anderes denken als an meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld! Ich kann nicht mehr schlafen. Ich spüre ihren Blick und drehe mich um, erfüllt von Hoffnung und Furcht und bin doch immer allein.”

Und gerade diese Angst bringt J.A. Hoffmann um den Verstand. Auch er fühlt sich von ihr verfolgt. Melmoth, die Frau die dazu verdammt ist, auf ewig über die Erde zu streifen und nach Bösem und Niederträchtigem Ausschau zu halten. “Sie erscheint den Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens, und nur die Erwählten spüren ihren Blick. Sie heben den Kopf, und plötzlich steht die Zeugin vor ihnen. Angeblich streckt sie dann die Arme aus und sagt: Nimm meine Hand! Ich war so einsam!” Natürlich ist dies nur eine Legende, doch Hoffmann ist sich sicher, Melmoth schon einmal begegnet zu sein. Damals zur Zeit des zweiten Weltkrieges in einem tschechoslowakischen Dorf, am östlichen Ufer der Eger. Heute lebt er in Prag und hat seine Schuld, seine Geschichte und Begegnung mit der düsteren Frau als Manuskript verfasst und bereits mehrfach überarbeitet. Nach dem plötzlichen Tod Hoffmanns gelangt Helen Franklin über Umwege an eben dieses Dokument. Sie ist zweiundvierzig Jahre alt und lebt hier seit einigen Jahren im selbst auferlegten Exil, denn auch sie hat ihre eigene, dunkle Vergangenheit. Mit Hoffmanns Manuskript über seine Kindheit, geprägt von Neid, Missgunst und den auflehnenden Wirrungen des Krieges, öffnen sich zahlreiche, weitere Abgründe. Berichte, Briefe, Tagebucheinträge, die von Melmoths Existenz berichten und ihre eigenen Erlebnisse greifen um sich. Sie fühlt sich verfolgt und ist sich sicher, Melmoth wird auch sie holen, aber dann…

“Wer außer mir wird von deiner Bosheit erfahren? Wer außer mir hat gesehen, was in deinem Herzen ist? Was soll aus dir werden, […] wenn die anderen davon erfahren? Wenn sie es sehen?” “Dann bin ich also verdammt”, sagte ich. “Verdammt? Oh ja, du bist verdammt! […] Erkennst du denn nicht, welche Strafe dich erwartet?”

Sarah Perry nimmt uns dieses Mal also mit nach Prag, einem sehr geschichtsträchtigem Ort. Ihre Hauptprotagonistin kommt ursprünglich aus Essex und hat sich über einige Umwege hier eingefunden. Und da ist sie wieder: die Verbindung zu ihrem Buch “Die Schlange von Essex”, einer Geschichte in der die Wissenschaft und die Kirche aufeinandertreffen und dem Unheil in Form einer Schlange, die im Moor ihr Unwesen treibt, auf Spurensuche geht. In ihrem neuen Werk ist es nun die Legende einer schwarz gekleideten Frau, die Verdammte, die Zeugin des Unheils. Und gerade nach den ersten Zeilen befindet man sich als Leser erneut in dieser sehr mystischen, poetischen Welt, mit der Perry bereits in ihrem vorherigen Roman begeistern konnte. Doch dann wird es nach und nach tatsächlich etwas viel. “Melmoth” ist eher geprägt von unterschiedlichen Geschichten und Erinnerungen und weniger durch die im Klappentext versprochene Handlung und Hinweissuche. Und dabei meine ich nicht nur ‘Geschichten’ sondern gefühlt sind es beinahe schon eigenständige Buchanfänge oder Kurzfassungen, die in dieser Kombination einfach zu viel abverlangen. Mir z.B. hätte bereits die Geschichte von Hoffmann, die etwa ein Drittel des Buchs ausmacht voll und ganz gereicht, aber es gibt eben auch noch Briefe und weitere Fragmente, die von der Existenz Melmoths zollen und dann ist da auch noch Helens Vergangenheit, die ein weiteres Feld in diesem eher bunten Sammelsurium öffnet. Insgesamt ist es daher ein eher wuchtig daherkommendes Werk, das auch den Leser sehr in Beschlag nimmt und fordert, ihm teilweise sogar zu viel abverlangt. Und auch wenn im Nachhinein gerade dies so faszinierend ist, so enttäuscht ist man dann von der eigentlichen, mangelnden gegenwärtigen Handlung. Für mich ist es eine Mischung aus einer Legende, einer Juden- und Kriegsgeschichte, leicht poetisch, leicht verwirrend. Teilweise hat es mich an zahlreiche andere Bücher erinnert, die Perry vielleicht als Inspiration genutzt hat und dann musste ich tatsächlich sehr häufig an “Der Vogelgott” von Susanne Röckel denken, in dem es auch um eine ominös, angsteinflößende Gestalt in Form eines Vogels ging – mehr verwirrend, beklemmend, aufwühlend, als verständlich und nachvollziehbar. Dohlen kündigen in Perrys Roman das Unheil an, es könnte genauso gut eine Anlehnung an Hitchcocks “Die Vögel” sein und doch ist es in dieser Form sehr speziell und eigenartig.
Direkt nach der Lektüre war ich ausgelaugt und konnte dem Roman gar nicht so viel abgewinnen, doch mit der Zeit finde ich ihn mehr und mehr faszinierend. Es ist die Geschichte in der Geschichte, neben der Geschichte und doch ist alles eben jene Geschichte, die den Leser in Beschlag nimmt, stellenweise vielleicht enttäuscht, fraglich zurücklässt und dennoch sehr fordert. An einigen Stellen wendet sich das Buch direkt an den Leser und an anderen ist es einfach nur eine weitere Erzählung, die eben mehr überfordert, als tatsächlich nützlich ist. Von daher ist es von mir eine vorsichtige Empfehlung und doch hätte ich hier deutlich mehr erwartet.

Sarah Perry – Melmoth.
Aus dem Englischen von Eva Bonne.
Eichborn.
336 Seiten. 24 Euro. Hardcover.

13. Oktober 2019

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