Hoffnung auf eine bessere Zukunft. – “Kachelbads Erbe” von Hendrik Otremba

An dieser Stelle möchte ich euch nun ein, für mich, ganz besonderes Buch vorstellen. Ich weiß, eigentlich sollte man seine Meinung nie gleich zu Beginn einer Rezension rausposaunen, aber hier kann ich mich einfach nicht zurückhalten, denn was Otembra hier geschaffen hat, ist ein großartiges Kunstwerk. Es ist ein Stück Dystopie und doch ganz viel Jetzt und noch mehr Vergangenheit. Hendrik Otremba hat mich mit seinem Roman “Kachelbads Erbe” auf vielfältige Weise gepackt, zum Grübeln gebracht, euphorisch mitfiebern lassen, aber eben auch sehr betrübt zurückgelassen. Ich würde beinahe von einer emotionalen Achterbahnfahrt mit kurzen Zwischenstops sprechen, aber eins nach dem anderen…


“Los Angeles, 13. Juni 1987 […]
Heute ist es soweit. Dies ist mein vorerst letzter Eintrag. Ich habe keine Angst mehr. Ich weiß, dass ich geliebt werde. Wir haben zusammen gefrühstückt. French Toast. Gleich fahren wir in die Halle. Dann sterbe ich. Zum ersten Mal in meinem Leben sterbe ich. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages wiedersehen.”

Und schon bin ich dann tatsächlich auch ein kleines bisschen überfordert. Bereits der kurze Prolog und die beiden vorangestellten Gedichte/Zitate haben mich sehr aufgewühlt und zahlreiche Gedanken aufgeworfen. Und dann? Dann kommt das eigentlich große faszinierende Schauspiel, denn “Kachelbads Erbe” kann man nun von verschiedenen Perspektiven aus aufrollen. Es gibt insgesamt fünf Teile plus Pro- und Epilog und ein jeder widmet sich einer anderen Perspektive, sei es durch Erzählungen, kurzer Transskripte oder Tagebuchfragmente. Wir lernen hier verschiedene Menschen und ihre Geschichten kennen. Doch im Zentrum des Ganzen steht der um die 60 Jahre alte H.G.Kachelbad. Gemeinsam mit Lee Won-Hong leitet er Exit U.S., ein Unternehmen, das sich der Kryonik verschrieben hat. Hier lassen sich Menschen aus der ganzen Welt einfrieren, um eines Tages in einer besseren Welt weiter leben zu können. Ihre Geschichten und (Ab-)Gründe sind gänzlich verschieden, sei es Krankheit, Einsamkeit oder die einfache Neugier und die große Hoffnung auf Heilung. Sie sterben um eingefroren und irgendwann wieder aufgetaut zu werden. Kachelbad ist der Hüter der “kalten Mieter” und damit ihr Helfer, aber nicht nur das, denn auch er hat seine ganz eigene, persönliche Geschichte und damit auch ein großes Geheimnis.

So oder so ähnlich könnte man es nun erzählen, aber selbst dann gehen Menschen verloren, denn neben Kachelbad gibt es eben auch Rosary, Shabbatz, Amelia, Charlotte, Ho Van Kim, Yulia oder Dr. Gruber, die etwas mit diesen Aufzeichnungen, diesem Erbe zutun haben. Sie alle haben etwas gemeinsam, denn sie sind “Unsichtbare”, eben die Menschen, die von anderen nicht wirklich wahrgenommen werden. Doch sie alle besitzen eine Geschichte. Das, was sie ausmacht und für die Zukunft sichtbar macht – vereint in diesem Buch.

Und wenn das noch nicht reicht… der kalte Krieg, das Unglück von Tschernobyl, Aids, Krankheit, Hoffnung, Angst, Erpressung und Verzweiflung, selbst Nähe und Liebe. Sie alle sind ein Teil, sind ein Stück weit Geschichte.

“Ich will nicht, dass das alles verschwindet. Deshalb will ich in eine Zeit reisen, in der es endlich die Möglichkeit gibt, zurückzugehen. Ich will meine Eltern finden und ich werde mit ihnen verkünden, was wir Menschen der Gegenwart angetan haben. Es ist die letzte Chance.”

Kryonik ist Hoffnung. Das Einfrieren gibt die Chance auf ein neues Leben, irgendwann in der Zukunft. Für wen das nun dystopisch klingt, den muss ich dann leider enttäuschen, denn gerade diese im Buch erwähnten Fakten und die Kryonik selbst, gibt es wirklich. Menschen werden bereits heute eingefroren und in großen Stahlcontainern für die Zukunft konserviert – sei es aus Faszination oder Hoffnung, dass für die “kalten Mieter” noch einmal ein Leben möglich ist. Und gerade weil es dann doch ein ethisch recht fragliches Verfahren ist, welches uns an den Abgrund des menschlichen Lebens bringt und Chance auf etwas Neues bietet, ist dieses Buch dann nicht einfach nur ein recht abgefahrener Roman, sondern auch ein Stück weit eine reale Geschichte mit sehr viel philosophischem Gedankengut. Otremba hat hier ein in sich geschlossenes und sich immer weiter vervollständigendes Bild erschaffen, das einen gedanklich festhält und fordert. Leicht düster, spannend, menschlich unvoreingenommen. Dieses Buch ist ein Auszug aus Kachelbads Leben, eben das, was er bereit ist für andere zu opfern, um ihnen Gehör zu verschaffen. Es ist die Liebe zum Menschen, ohne Verurteilung und Vorurteile. Es ist ein Geschenk und doch eine große Herausforderung.

Ich könnte es an dieser Stelle abkürzen und einfach nur “Wow” sagen, denn gerade durch diese Vielschichtigkeit und die wie Zahnräder ineinander greifenden, ergänzenden Kapitel, die Charaktere, die Geschichte, einfach alles macht dieses Buch zu einem großartigen Kunstwerk, dass man nach Beendigung noch einmal neu entdecken möchte. Es ist dieses mitreißende Gefühl, dass zusätzlich emotional durch einzelne Zitate und Zwischenseiten verstärkt wird und von der ersten bis zur letzten Seite einen roten Faden verfolgt. Optisch, haptisch, inhaltlich ist es komplett aufeinander abgestimmt und das hat man in dieser Form bei Büchern eher selten. Otembra hat mich abgeholt, begeistert, fasziniert und genau das hoffe ich nun auch bei euch. Ich möchte dass ihr diese Geschichte lest. Das Buch liebt und euch mit mir Gedanken macht. Gedanken übers Jetzt, das Bald, das Hier. Von mir eine sehr große Empfehlung, wenn nicht sogar (neben Miroloi) mein Buch des Herbstes.

“Warum reden wir von Männern und Frauen? Weil unsere Vorstellungen von vorgefertigten Formen begrenzt sind, weil unsere Gedanken der Dürftigkeit der Sprache unterliegen. Würden wir nicht viel mehr sehen, viel mehr spüren, wenn wir nicht versuchten, automatisiert, ach, naturalisiert, wenn wir also nicht versuchen würden alles direkt in Begriffe zu ordnen? […]
Es ist zum Verzweifeln, denn gleichzeitig ist das Wort Literatur, Dichtung, ein Liebesbrief.”

//Kurz zum Autor und das ist an dieser Stelle wirklich beeindruckend, denn Hendrik Otremba wurde 1984 im Ruhrgebiet geboren. Er Ist heute Berliner, Schriftsteller, bildender Künstler, Sänger der Gruppe “Messer” und Dozent für kreatives Schreiben. Ab und zu schreibt er selbst über Musik und malt, fotografiert, inszeniert Großartiges. Sein Debütroman “Über uns der Schaum” erschien beim Verbrecher Verlag im März 2017.

Hendrik Otremba – Kachelbads Erbe
Hoffmann und Campe.
432 Seiten. 24 Euro. Hardcover.

17. August 2019

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