Wie geht es weiter? Wie ist die politische Lage? Und wie entwickelt sich die Gesellschaft, wenn sich die Wirtschaft im Wandel befindet? Klima ist heutzutage ein großes Thema, Kohle- und Atomkraftwerke ein Graus vieler… doch was passiert, wenn man in einzelnen Regionen essentielle Wirtschaftssektoren schließt? Was wird aus den Menschen? Der Jugend? Und der Region selbst? Das und weiteres sind Fragen über die man sich heute so Gedanken macht… also ich bzw. jeder sollte sich eigentlich darüber im Klaren sein, wie das Leben vieler Menschen so indirekt von der Industrie abhängig ist…
Auch Nicolas Mathieu greift dieses Thema in seinem Roman Wir später ihre Kinder auf. Allerdings verschlägt es uns hier zurück ins Frankreich der 90er Jahre. Um genau zu sein nach Heilange, einem fiktiven Ort in der östlichen Provinz des Landes. Ganze Industriezweige wurden hier stillgelegt und mit ihnen auch die Region. Die Menschen versuchen sich einen Weg zu bahnen, Ziele zu finden, ihr Leben zu erhalten…
In Mathieus Roman begleiten wir nun die Jugendlichen Anthony und den aus Marokko stammenden Hacine und lernen sie und ihr Umfeld in vier Sommern zwischen den Jahren 1992 bis 1998 kennen. Sie sind keine Helden oder gar Vorbilder. Sie und ihre Freunde leben in einer Welt in der ihnen nichts geschenkt wird und doch entwickeln sie sich. Irgendwie. Drogen, Alkohol, sexuelle Erfahrungen, Konflikte, Langeweile… Leben zwischen Sehnsucht, Tristesse und der ‘Frage’ nach der Zukunft. Sehr bewegend, bedrückend und doch eindrucksvoll schildert Matthieu ihr Leben, ihren Alltag, den gesellschaftlichen Wandel.
“Er hatte Pickel, löchrige Turnschuhe, ein kaputtes Auge. Und seine Eltern bestimmten über sein Leben. Klar, er hielt sich nicht an ihre Vorschriften und stellte ihre Autorität dauernd infrage. Trotzdem war das gute Leben für ihn unerreichbar. Aber er würde nicht so enden wie sein Alter, der den halben Tage besoffen war, bei den Fernsehnachrichten rumschimpfte oder sich mit seiner gleichgültigen Frau stritt. Wo war das Leben, verdammt?”
Es ist kein unterhaltender Roman in dem Sinne, denn Wie später ihre Kinder ist viel tiefgründiger und vielschichtiger. Es ist mehr ein sich entwickelndes Gesellschaftsportrait. Und dabei würde ich es beinahe mit Rietzschels Mit der Faust in die Welt schlagen vergleichen. Es ist ein Roman, der sich an der Trostlosigkeit einer Gesellschaft entlang hangelt. Eine Region, die durch die Schließung eines Stahlwerks an einen aussichtslosen Punkt zwischen Reihenhaus und Plattenbau gestoßen wird. Jugendliche, die vor sich hin dümpeln, Drogen konsumieren, Liebschaften suchen, sich duellieren. Alkohol, Trostlosigkeit, Rechtspopulismus, Ausflüchte, aber irgendwie nichts Richtiges. Und so geht es dann auch weiter. Innerhalb der Jahre, machen Anthony, Hacine und ihr Umfeld ihre Erfahrungen, driften ab, fangen sich wieder, fallen erneut. Es ist ein spannendes, aber nicht gerade leichtes Feld, mit dem Matthieu sich hier intensiv auseinandersetzt. Es ist beinahe der Verfall der Gesellschaft auf französischer Seite, eben das, was wir neuerdings auch in Deutschland mehr und mehr erleben.
Dieses Buch wurde 2018 mit dem französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet und das hat es für mich dann tatsächlich auch so faszinierend gemacht. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich aufgrund der recht bekannten Thematik daran vorbeigeschliddert. Ich selbst bin in den 90ern in einer recht trostlosen Ecke Deutschlands aufgewachsen und setze mich eigentlich tagtäglich mit dem, was in diesem Land geschieht, auseinander und finde es momentan erschreckend in welche Richtungen gerade die abgehängten Regionen driften. In Frankreich ist die Situation sogar noch etwas extremer und angespanter. Auch dies wird durch dieses Buch deutlich – die Konflikte einer Gesellschaft, die bereits in den 90er Jahen heraufbeschworen wurden, während sich Deutschland gerade noch im Taumel und Jubel der Wende befindet. Und ja, es ist tatsächlich nicht leicht zu lesen. Ich kann auch nicht einmal behaupten, dass ich sonderlich viel Vergnügen an der Geschichte hatte, denn oftmals hatte ich für die Taten der Jugendlichen, ihrer Erziehungsberechtigten oder auch für die Gesellschaft nur recht wenig Verständnis. Die zusätzliche Trostlosigkeit spielte sich dann abschnittsweise in der Erzählung selbst wieder, sodass es für mich teilweise Zwang, aber auch Drang wurde, wissen zu wollen, wie sich die Jugendlichen weiterentwickeln und wo die Reise hinführt. Und so bin ich am Ende dann auch mehr eine Mischung aus Fan und fragendem Beobachter, was es für mich sehr kompliziert macht, diesen Roman letztendlich einzuschätzen. Matthieu schreibt sehr realitätsnah, teilweise erschreckend beklemmend und man beobachtet fasziniert die “Vergessenen” einer Nation in der Hoffnung, dass noch etwas passieren wird… Irgendwie tut es das ja auch, aber eben so trostlos und anders als erwartet. Es tut weh. Man selbst beobachtet das Ganze so hilflos und hofft mit den Protagonisten auf eine bessere Welt, aber nun ja…
Am Ende gibt es so von mir nur eine vorsichtige Leseempfehlung, denn sicherlich ist der Inhalt dieses Roman sehr aktuell und faszinierend, aber eben auch eine kleine Herausforderung.
Nicolas Mathieu – Wie später ihre Kinder.
Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen.
Hanser Berlin.
445 Seiten. 24. Euro. Hardcover
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