“Ich war sonderbar, nicht normal, voller Probleme, okay. Das hatte man mir immer und immer wieder gesagt. Aber im Grunde waren alle Menschen wie ich. Die anderen hatten auch ihre Malocchios, ihre Albträume und ihre Macrets, sie gaben ihnen nur andere Namen.”
Es ist 1965. Sommer. Der 12-jährige Shell lebt mit seiner Familie in einem recht abgelegenen Ort in der Provence. Das nächste Dorf liegt etwa 10km entfernt. Sie betreiben eine Tankstelle, die aufgrund der Distanz zum Dorf nicht so häufig von den Einheimischen angefahren wird, aber zum Leben reicht es scheinbar. Shell ist ein Sonderling. Er hat keine Freunde, geht nicht mehr zu Schule, zündet gern Insekten an und erfreut sich daran die Zapfsäulen zu polieren und Autos vollzutanken. Doch er will endlich ein Mann sein. Er probiert eine Zigarette und steckt damit beinahe die Tankstelle in Brand. Und als ihn dann noch seine Eltern zurück auf eine Sonderschule schicken wollen, reißt er sich zusammen und geht über Nacht. Er fühlt sich erwachsen. Shell will in den Krieg ziehen. In einen, wie er ihn aus dem Fernsehen kennt, und es allen beweisen, dass er ein echter, furchtloser Kerl ist. Sein Weg führt ihn über ein nahegelegenes Plateau, wo er auf ein Mädchen namens Viviane trifft. Sie verstehen sich auf Anhieb, reden, spielen. Shell lebt nun auf dem Hochplateau.
Gar täglich bekommt er nun Besuch von seiner Königin. Zumindest erzählt sie ihm, dass sie eine sei und auf einem Schloss in der Nähe wohnt. Mit ihr scheint er die große Schlacht der Männlichkeit vergessen zu haben und bleibt. Als Untertan. Als Held. Nur zurück kann er eben nicht. Als dann alle nach ihm suchen, hilft sie ihm sich versteckt zu halten und versorgt ihn mit Sandwiches. Doch eines Tages, als die Polizei vor seiner Hütte auftaucht und er flieht, ist sie dann plötzlich auch verschwunden…
“Ich hatte die Wahl. Ich konnte losziehen und mir einen Krieg suchen, oder ich suchte mir irgendwo eine nicht allzu komplizierte Arbeit. Aber dann beschloss ich, auf Viviane zu warten, vielleicht kam sie ja zurück.”
Dieser Roman ist für mich ein sehr feiner, poetischer, gar niedlicher Ausflug mit einigen Längen. Shell und Viviane sind so wunderbar kohärente Charaktere, die jeweils sehr viel Raum für sich beanspruchen und auf ihre Art total liebenswert sind. Shell ist zunächst so eine Art Rabauke, der es unbedingt allen beweisen will, aber eigentlich recht wenig Ahnung von der Welt hat. Er ist manchmal übermütig und doch auch ängstlich wie eine Schildkröte. Viviane ist eher das verrückte, freche Mädchen mit sehr viel Fantasie. Sie hat ihren Kopf für sich und doch sehnt sie sich nach anderen. Zumindest hatte ich immer das Gefühl, dass sie gerade mit Shell aufblüht und sie sich gegenseitig recht gut tun bzw. herausfordern. Shell fühlt sich von ihr verstanden. Er springt über seinen Schatten, Vivane kostet ihren Vorteil zunächst eher aus, bis sie dann erkennt, dass sie leider einen Schritt zu weit gegangen ist.
Und so ist dieser Roman dann auch von den Charakteren bestimmt und weniger von der Handlung als solches. Leider kann Andrea das Niveau nicht durchgängig halten, zumindest hat sich der Mittelteil etwas gestreckt und ich verlor dadurch auch leider kurzzeitig meine Begeisterung. So habe ich dann an diesen gerade einmal 152 Seiten vergleichsweise auch recht lange gelesen. Das ist allerdings auch nicht sonderlich schlimm, denn das Ende hat meine Begeisterung wieder neu entfacht. Jean-Baptiste Andrea liefert hier nämlich keine abgeschlossene, bis ins Detail ausformulierte Geschichte. Es bleibt noch ganz viel Spielraum für Fantasie übrig und gerade diese Möglichkeit macht’s dann auch wieder aus. Man sieht die beiden Hauptcharaktere vor dem inneren Auge und nimmt ihnen jedes Gefühl, jede Regung, Begeisterung… einfach ab. Meine Königin ist eine wirklich tolle Geschichte für alle, die noch das Kind in sich besitzen und vielleicht auch hin und wieder über ihren eigenen Schatten springen wollen.
“Ich wollte nicht als Feigling gelten, wenn ich zurückkam. Aber ich hatte eine Königin und ich wusste schon jetzt, dass ich für sie alles tun würde, nicht weil ich es geschworen hatte, sondern weil ich Lust hatte.”
Jean-Baptiste Andrea – Meine Königin
Aus dem Französischen von Thomas Brovot.
Insel Verlag.
152 Seiten.12,95 Euro. Taschenbuch.
//Leseexemplar
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