Roman | Willkommen im “Institut für gute Mütter”, dem Ort an dem Gut, Böse und Mutterschaft nochmal eine ganz andere Bedeutung bekommen

Eigentlich wollte Frida Liu nur schnell etwas von der Arbeit holen und kurz für einen Kaffee Halt machen um dann schleunigst zu ihrer Tochter zurückzukehren. Nach Hause zu Harriet. Doch aus den geplanten wenigen Minuten, wurden zweieinhalb Stunden. Zweieinhalb Stunden in denen das kleine Mädchen allein in der Wohnung saß, nach ihrer Mommy schrie und weinte. Und wahrscheinlich wäre das alles niemals so schlimm gewesen, hätten nicht die Nachbarn die örtliche Polizei verständigt. Die Kinderschutzbehörde schaltete sich ein, entzog Frida ihr Kind, schränkte ihre Umgangsrechte ein und übergab ihrem Ex-Mann Gust und seiner Frau Susanna das vollständige Sorgerecht. Auf einmal sah sie sich mit der Aussage “Sie sei eine schlechte Mutter” konfrontiert, wurde wie ein Schwerverbrecher verhört, überwacht und schlussendlich wegen Vernachlässigung und Aussetzung zur Teilnahme an einem neuen staatlichen Programm zur Schärfung ihrer Fähigkeiten verurteilt. “Sie können sich glücklich schätzen […] noch vor ein paar Monaten wäre Ihnen einfach die Teilnahme an Erziehungskursen angeordnet worden. Aber wozu soll ein rein theoretischer Kurs über Erziehung gut sein? Schlechte Eltern müssen alles von Grund auf neu lernen: die richtigen Instinkte, die richtigen Gefühle, die Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden sichere, fürsorgliche und liebevolle Entscheidungen zu treffen.”


Für dieses Rehabilitierungsprogramm/den Aufenthalt im Institut mussten sie alles abgeben, durften nichts mitnehmen, bekamen sogar Unterwäsche staatlich gestellt. Sie und viele andere Frauen oder auch Männer in einem anderen “Umerziehungslager” müssen hier von Grund auf alles neu lernen. Viele von ihnen sind hier aufgrund von Vernachlässigung, einige haben ihr Kind einfach zu sehr geliebt und verhätschelt, andere ihren Kindern in der Öffentlichkeit einen Klaps auf den Po gegeben oder sie alleine im Hinterhof spielen lassen… alles was laut KSB zu traumatischen Erfahrungen bei Kindern führen kann. “Ich glaube, wir können weder körperliche noch seelische oder verbale Misshandlung vollkommen ausschließen”, meint die Sozialarbeiterin, die Frida in den wenigen, erlaubten “Spielstunden” mit ihrer Tochter gefilmt, analysiert und beurteilt hat.
Und nun sitzt sie ausgerechnet hier und soll mit den anderen Frauen an einer KI-Puppe lernen wie man es richtig macht. Richtig umarmt, richtig kindgerecht spricht, generell auf seine eigene Sprache, Lautstärke, Vokabular und Handlungen achtet… 3-2-1 loslassen, so schwer kann es doch gar nicht sein. Und wenn sie nach einem Jahr endlich alles gelernt hat und die Voraussetzungen für eine gute Mutter erfüllt, darf sie auch ihr Kind wieder sehen… aber wird es überhaupt dazu kommen? Wird sie es schaffen, nachdem man ihr schon vorher allerhand Dinge unterstellt hat? Und kann ein normaler Mensch auf Dauer überhaupt noch zwischen realen und KI-Menschen unterscheiden? Wie verhält es sich mit dem Auseinanderleben von Kind und Mutter? Was für ein krasses und großes Sozialexperiment, gepackt in Jessamine Chans Roman Institut für gute Mütter.

“Die Mütter müssen gleichzeitig auf Tonfall und Vokabular achten. Ein Gerät in den Puppen zeichnet auf, wie viele Wörter jeden Tag gesprochen werden, wie viele Fragen die Puppe beantwortet und wie viel sprachliche Interkation stattfindet. Die Tonaufnahmen werden auf das Verhältnis zwischen Ermutigungen und Warnungen oder Maßregelungen untersucht. Bei zu vielen Neins ertönt ein Alarmsignal, das nur die Trainerinnen abstellen können.”

Ich hätte niemals gedacht, dass mich ein Buch so faszinieren und mir gleichzeitig so unangenehm sein könnte. Die Beschuldigungen, die Einmischung und konsequente Überwachung durch die KSB und den Staat, sowie die strikte Einordnung von Gefühlen, Handlungen und Empathie nach Lehrschlüssel haben mich fertig gemacht. Der Begriff Mutterschaft bekommt eine extreme, enge Schablone über beinahe alles gestülpt und jede einzelne Handlung wird beurteilt… doch was genau macht eine gute Mutter aus? Was ist falsch daran, wenn man einem Kind zu viel Aufmerksamkeit und Nähe schenkt oder auch mal, kurze, verzweifelte Momente hat? Und das in dieser extremen Kombination mit dieser utopischen Vorstellung, die irgendwie den Blick für alles menschliche verloren hat, sofern es nicht mit “Lernschlüssel” konform ist, ist sehr erschütternd und aufwühlend. Natürlich stellt Chan einige Dinge sehr überspitzt da, schon die Ausgangslage erinnert an die klassischen Vorstellungen einer überarbeiteten, übermüdeten Mutter, die aufgrund eines ständig quengelndes Kindes alles schleifen lässt… nur der Vater bekommt dies gut geregelt, natürlich.
Am weiteren Verlauf könnte man nun etwas mäkeln, denn bereits die zweite Hälfte lockt zwar mit einigen Herausforderungen, aber sobald das Setting genaustens erklärt wurde, allen Müttern eine Puppe zugeordnet wurde und alle Beteiligten sich in ihren Rollen einfinden, plätschert es irgendwie so vor sich hin. Und das Ende ist dann nur noch eine logische Konsequenz, kaum Überraschung. Dennoch löst dieses Buch beim Lesen so einiges aus, lässt über menschliches Zusammenspiel, Elternschaft und Freundschaft nachdenken, eigene Wege und Erklärungen finden… und irgendwie wird dabei schon deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung für eine gute Mutter sein kann und wie anstrengend eine ‘regelkonforme’ Erziehung ist. Ich würde gerne sagen, dass diese Zukunftsversion sehr weit hergeholt ist, aber an sich ist dieser Roman nur etwas ins Extreme vorschoben und gar nicht mal unmöglich. Ich hoffe allerdings, dass wir so weit niemals kommen werden. Ansonsten ein tolles, spannendes Buch und mal eine ganz neue utopisch-dystopische Sicht auf die Welt – kein Wunder, dass es bereits in den USA ein Bestseller war.

___

Jessamine Chan – Institut für gute Mütter.
Aus dem Englischen von Friederike Hofert.
Ullstein.
432 Seiten. 22,99 Euro. Hardcover.

17. April 2023

No Comments

Leave a Reply

You Might Also Like