Roman | Erinnerungen an den Winter – Ali Smiths zweiter Band ihres Jahreszeitenquartetts

Der Winter nähert sich nun seinen letzten Tagen und für mich als Fan der kalten Jahreszeit heißt es Abschied nehmen. Doch was genau verbindet man mit dem Winter außer Kälte, Dunkelheit, Glätte und Schnee? Gemütliche Stunden vor der Heizung, einen warmen Tee, Kakao oder doch den prozentigen Punsch, aber dann? Vielleicht noch Weihnachten, das besinnliche Fest mit allerlei Dekoration, wobei selbst das kaum noch mit dem Fest von früher vergleichbar ist. Gerade die Gedanken an die eigene Kindheit und die Besonderheit dieser Tage tun gut und geben diesem Fest so etwas heimeliges, doch jetzt wird es gefühlt mehr und mehr ein Krampf der familiären Besinnlichkeit. Ali Smith hat für ihren Roman Winter ihre Protagonisten in ein Haus nach Cornwall gelockt. Vier Menschen verbringen gemeinsam die Weihnachtstage und blicken zurück auf alte Erinnerungen, doch was eigentlich ganz nett klingt, überrascht mit seinen Lügen, Streitereien und vor allem einem, Fremdheit.

“Also, mich erinnert das Zimmer heute und hier ein bisschen an das Stück von Shakespeare, in dem die ganze Geschichte hindurch jemand nach vorn tritt und ansagt, was ein Leser des Stücks oder wahrscheinlich das Publikum hören und wissen soll, die anderen Personen auf der Bühne in dem Moment aus irgendeinem Grund aber nicht hören können oder so tun sollen, als hörten sie es nicht, obwohl der Sprecher es eigentlich laut und deutlich sagt, für alle im Theater.”

Ali Smiths zweiter Band des Jahreszeitenquartetts widmet sich dem Weihnachtsfest, doch eigentlich könnte es für jede Familienfeierlichkeit stehen, denn so typisch weihnachtlich sind die beschriebenen Szenen nicht gerade. Vielleicht könnte man das Dinner oder die gemeinsamen Stunden so deuten, aber sonst ist da, bis auf das genannte Datum und ein paar Kleinigkeiten, tatsächlich recht wenig. Und nicht nur das hat mich an diesem Buch überrascht. Zwar setzt Smith die Auseinandersetzung mit der Zwischenmenschlichkeit fort, allerdings thematisiert sie nicht wie im vorherigen Band “Herbst” die Freundschaft, die Liebe, den Zusammenhalt und die emotionale Bindung zwischen den Menschen, sondern legt den Fokus mehr auf die Ungleichheiten, das Schauspiel aus Lüge und Wahrheit und irgendwie auch die Enttäuschung.
Im ersten längeren Abschnitt geht es zunächst um Sophia, die eines Tages von einem körperlosen Kopf begleitet wird. Was zunächst noch sehr skurril erscheint und sehr viele Fragen aufwirft, entpuppt sich rasch als Psychose und auch, wenn sie es versucht, diesen Kopf abzuschütteln, so kehrt er zu ihr zurück. Auch ihr Sohn Arthur sieht Dinge die nicht da sind, auf seinem Blog berichtet er scheinbar von unmöglichen Ereignissen, Schmetterlingen und Vögeln, die er zu diesen Jahreszeiten in der Gegend gesichtet haben will oder eigentlich ist es mehr seine Freundin Charlotte, die ihn vor einer Weile verlassen hat und ihn auf diese Weise irgendwie lächerlich machen will. Doch davon darf seine Mutter nichts erfahren und so heuert er an einer Bushaltestelle für eine nicht gerade unbeachtliche Summe eine zufällige Begegnung an. Lux, die von nun an Charlotte, aber nicht die Charlotte, sondern eine andere ist, begleitet ihn über die Festtage nach Hause. Dort treffen sie seine Mutter, die scheinbar nichts fürs Fest vorbereitet hat, in eben jenem fragwürdigen Zustand an. Arthur setzt einen Hilferuf an seine Tante Iris, die etwa dreißig Jahre lang mit ihrer Schwester nicht mehr gesprochen hat, ab und diese eilt ihnen zur Hilfe. Ganz unterschiedliche Charaktere, Vorstellungen und Leben prallen gezwungenermaßen aufeinander. Ein Weihnachtsfest voller Schauspielerei, Annäherungsversuchen und Entfernungen beginnt, doch nach und nach scheint sich der Vorhang zu lüften, Erinnerungen werden frei gelegt und mit jeder weiteren Unterhaltung rückt ein jeder in ein anderes Licht.

“Sie ist deine Geschichte. Das ist der andere Unterschied zwischen Fleisch und Menschen. Ich meine nicht, zwischen Tieren und Menschen, denn die wissen, wie man sich weiterentwickelt. Wir haben ihnen aber was voraus, wir können in Erfahrung bringen, woher wir kamen. Das zu vergessen, zu vergessen, was uns geschaffen hat und wohin es uns führen kann, das ist wie, ich weiß nicht, als würden wir unseren Kopf vergessen.”

Ali Smith ist mit ihren Büchern eine Künstlerin, denn mit Leichtigkeit erzählt sie von wirrsten Konstellationen und verknüpft diese beinahe spielerisch mit Kunst, Literatur, sonstigen Berühmtheiten und aktuellen Schlagzeilen. Ihre Jahreszeitenbände sind für mich mehr so ein kreativer, tiefgründiger Anstoß in viele Richtungen. Neben kritischen Gedanken über die politische Situation Englands und den Umgang mit Geflüchteten oder Plastik, geht in diesem Band z.B. auch um die Bildhauerin Barbara Hepworth, den Fotograf Édouard Boubat und Wiliam Shakespeare. Und dann sind da noch ihre Protagonisten, die alle ganz unterschiedliche Ziele im Leben verfolgen und ihre verdrängten Probleme mitbringen. Manchmal ist es dann dieser ganz fremde Blick, der Sachen ins Rollen bringt, manchmal auch die Erinnerung, die verbindet. Winter ist eine großartige Auseinandersetzung mit den Wirrungen des Lebens zwischen dem krampfhaften Festhalten und des nicht-aufgeben-Wollens, der Überforderung und Sehnsucht, aber auch dem Verlust. Umso länger ich darüber nachdenke, umso mehr Themen fallen mir ein und in so viele Szenen könnte man weitere Zusammenhänge deuten, sich ständig inspirieren und in ganz neue Gefilde treiben lassen. Wahrscheinlich würde man das Geschriebene mit jedem weiteren Lesen und anderer Lebenssituation stets anders wahrnehmen. Momentan würde ich allerdings sagen, dass dieser Roman nicht das Nonplusultra ist, denn hier und da hatte ich dann doch zutun an der Geschichte dran zu bleiben oder sie war mir etwas zu abstrus und dennoch enthält dieses Buch so viel Tolles und Überraschendes, dass man eigentlich nur noch vorfreudig auf den nächsten Teil warten kann, ein Glück, dass Frühling bald erscheint.

“Die Welt ist voller Menschen, die nach Sinn in Gestalt eines Vogels suchen, der bei uns nicht heimisch ist, aber trotzdem hier auftaucht.”

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Ali Smith – Winter.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand.
315 Seiten. 22 Euro. Hardcover.

___weitere Bücher der Autorin:
Herbst. Roman. Luchterhand. 2020.
Frühling. Roman. Luchterhand. 2021.

20. März 2021

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