Buchpreis | Charles Lewinsky über die Macht der Geschichte und das Leben des Halbbarts

Dieses Jahr war für mich in Sachen Buchpreis recht intensiv. Als mich die Anfrage erreichte, ob ich Lust hätte mit 19 anderen BuchbloggerInnen die 20 Titel der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 zu begleiten, freute ich mich zunächst riesig, hatte allerdings auch Bedenken mit dem mir zugelosten Buch recht wenig anfangen zu können. Und diese Zweifel sollten insgesamt auch nicht ganz unbegründet bleiben. Einige der nominierten Titel hatte ich zufälligerweise schon auf meinem Lesestapel oder hatten mich bereits im Frühjahr sehr angesprochen, andere interessierten mich so gar nicht oder hatten mich bereits nach den ersten Zeilen deprimiert. Valarie Fritschs Roman “Herzklappen von Johnson & Johnson” habe ich bereits im Frühjahr gelesen und mit voller Begeisterung als heißen Anwärter gesehen. “Streulicht” war ganz gut. Mit Seethalers “Die letzte Reise” und der Geschichte um den jüdischen Dirigenten Mahler konnte ich recht wenig anfangen und habe es als misslungenen Aufsatz, leidgeprägt und mit der Benotung “Am Thema vorbei” zur Seite gelegt. Und Wolffs “Die Unschärfe der Welt” hat mich in eine tiefe Leseflaute, wenn nicht sogar Krise und Konzentrationsverwirrung gestürzt. Puh. Umso glücklicher bin ich, dass mein Patenbuch Der Halbbart von Charles Lewinsky geworden ist. In diesem Zusammenhang habe ich auf Instagram mit der Unterstützung des Diogenes Verlags eine kleine Leserunde initiiert und wurde von diesem sehr faszinierenden Werk nun vier Wochen lang begleitet. Leider hat Der Halbbart die Shortlist nicht erreicht, aber eine Nominierung für den Schweizer Buchpreis folgte und hierfür drücke ich nun natürlich alle Daumen.

“Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da. Manche glauben sicher zu wissen, man habe ihn am Palmsonntag zum ersten Mal gesehen, andere behaupten steif und fest: Nein, am Karfreitag sei es gewesen. Sogar zu einer Schlägerei ist es deshalb einmal gekommen.”

Dieser Fremde, der einfach so da war und sich am Dorfrand einen Unterstand baut. Dieser Unbekannte mit nur einem halben Gesicht, einem halb verbrannten Körper und einer damit verbundenen tragischen Geschichte. Charles Lewinsky nimmt uns mit seinem Roman Der Halbbart auf eine Zeitreise, zurück in die Anfänge des 14. Jahrhunderts. Der kleine Eusebius, auch Stündelerzwerg oder einfach nur Sebi genannt, erzählt von seinem Leben, seinen Begegnungen und Gedanken. Alles beginnt mit der Ankunft eines Geflüchteten im Dorf. Zu diesem Zeitpunkt ist Sebi etwa 12 Jahre alt und sieht im Halbbart so etwas wie einen Gelehrten und neben seinen Brüdern eine Art Vertrauensperson und steten Ratgeber. Zwischen ihnen entwickelt sich eine besondere Freundschaft, die die beiden miteinander verbindet, aber nicht nur das, denn der Halbbart wird auch zum Retter von Sebis Bruder Geni. Dieser erleidet bei der Waldarbeit einen schweren Unfall, der ihn nicht nur sein Bein, sondern auch beinahe das Leben gekostet hätte. Doch der entscheidende Rat des Halbbarts führt nicht nur zu Ansehen, sondern auch zu Missgunst. Es folgen einige Konflikte und Unruhen, Neid und Aberglaube stehen im Vordergrund und ziehen große Folgen nach sich. Nach dem Tod der Eltern wird Sebi im Dorf Einsiedeln ins Kloster geschickt, doch auch hier warten weitere Machtspielchen und Vertuschungen auf ihn, die ihn später zur Flucht zwingen und ihn immer mehr mit dem Bösen/Teufel in Berührung bringen.

Diese Erzählung verschafft nicht nur einen Einblick in das Leben eines Jungen zur damaligen Zeit, sie spiegelt auch den steten Aufruhr, zwischen der Unterdrückung durch die Kirche, dem Glauben, den Adeligen und dem einfachen Volk wider. Und was einst im kleinen Rahmen zwischen den Dorfbewohnern schon für sehr viel Unruhe sorgt, soll auch im Großen für noch verherrlichendere Gewalttaten und Eitelkeiten sorgen.
Wenn ich diesen Roman nun mit einem Zitat zusammenfassen sollte, wäre es: “Zur Buße kriechen die Menschen, aber zur Sünde rennen sie.” Diese Geschichte ist eine Art Abbild verschiedener Bereiche (Kirche, Politik, Historie) und Archetypen der Menschheit, die stets mit ihren unterschiedlichen Ansichten aufeinanderprallen oder sich den Mächtigeren unterwerfen müssen oder ohne weitere Gedanken gar die Macht für ihre Zwecke in Beschlag nehmen und missbrauchen wollen. Die Macht der Überlieferung und Erzählung spielt dabei eine enorme Rolle, die nicht nur in Form der Teufels-Annelie im Winter für Unterhaltung sorgt, sondern auch die Menschen lehrt und fürchtet. Der erzählende Sebi hat dabei so eine außenstehende, berichtende, lernende und hinterfragende Rolle, die versucht zu verstehen und das Gute zu finden, doch das nahende Unheil kann auch er nicht abwenden, aber auch das ist wiederum nur ein Teil der Geschichte. Charles Lewinsky spielt insgesamt mit sehr vielen Geschichten in der Geschichte, mit der Wichtigkeit der Worte, sowie der Fokussierung und eben auch mit dem Leben selbst.

“Der Mensch sei eben ein Tier, das sich an alles gewöhnen könne […] und wenn einer in seinem Leben genügend schlimme Sachen erlebt habe, würden sie ihm irgendwann selbstverständlich. Bisher sei im Dorf nichts Böses passiert, aber der Alisi komme ihm manchmal vor wie der Muni im Stall vom Eichenberger: Die meisten Tage könne ihn ein Kind am Nasenring herumführen, so friedlich sei er, aber dann, von einem Moment auf den anderen, müsse man sich vor ihm mehr in Acht nehmen als vor dem wildesten Raubtier.”

Was mich nun an diesem Buch begeistert, ist seine Vielschichtigkeit bzw. die Möglichkeit sich mit dem Inhalt auf verschiedenen Wegen auseinanderzusetzen. So kann man z.B. den Fokus auf den Protagonisten Sebi und dessen Leben setzen. In diesem Roman begleiten wir ihn einige Jahre durch seine Jugend und er erzählt von für ihn gerade sehr wichtigen Erlebnissen, Begegnungen und auch von Banalitäten und unverständlichen Situationen zwischen seinem 12. und etwa 14. Lebensjahr. Innerhalb der 83 Kapitel berichtet er so von zahlreichen kleinen und großen Ereignissen, die ihn, seine Familie und Freunde, das Dorf oder die Region betreffen und beeinflussen. Sebi beschreibt seine Freundschaft zum Halbbart, von den Anfängen bis zum Ende, erzählt von seiner Zeit im Kloster, von seiner Flucht, dem Exil, seiner Lehre und seiner Beziehung zur Familie, zu seinen Freunden und irgendwie dann auch zu seinen Feinden und Teufeln.
Aus dieser Perspektive gibt es allerdings keinen ganz so eindeutigen Handlungsstrang und großartige Spannungsbögen. Der Roman wirkt eher wie eine lose, luftige Erzählung, die so grob Sebis Leben widerspiegelt und so spontan beginnend, auch schon früher aufhören oder noch über die 83 Kapitel hinaus lange weitergehen könnte. Häufig hatte ich das Gefühl, dass Charles Lewinskys Roman so ein männliches Pendant zu Karen Köhlers “Miroloi” wäre, nur eben in einer anderen Zeit spielend. Generell gibt es hier nämlich sehr große Ähnlichkeiten, von der Vielzahl der Kapitel und einzelnen beschreibenden Sublines bis hin zur kindlichen Erzählart und dem Heranreifen der erzählenden, hinterfragenden und zukunftsweisenden Hauptperson.

Nun könnte man aber auch den Fokus auf den Titel und den damit verbundenen Freund Sebis und irgendwie auch Weisen dieses Romans legen. Der Halbbart taucht zu Beginn dieser Erzählungen auf, gewinnt recht schnell an Bedeutung und wird für Sebi eine Art Vertrauensperson, eine Art allwissender Ghandi für ihn und die Dorfbewohner. Nach und nach erfährt der/die LeserIn, was dem Halbbart in seiner Vergangenheit zugestoßen ist und ihn zu dem “halben” Menschen mit Brandverletzung machte. Zunächst noch etwas abseits vom Dorf lebend, besucht Sebi ihn ständig, beschreitet einen kleinen Berg und fragt ihn um Rat. So ist dieser Roman dann ständig mit weisen Worten und Lebensratschlägen, die sowohl damals als auch gegenwärtig die Menschen und die gesellschaftliche Situation perfekt widerspiegeln, gespickt. Ein Vergleich zwischen weißen und roten Beeren ist mir dabei sehr in Erinnerung geblieben. Doch irgendwann bekommt die Geschichte einen Bruch und der einstig hilfreiche Charakter bandelt ein wenig mit dem Teufel, hegt Rachefantasien und muss sich mit diesen neu gewonnenen Möglichkeiten auseinandersetzen. Währenddessen versucht Sebi dann seinen eigenen Weg zu finden und die ratgebende Position des Halbbarts wird von Sebis Bruder Geni eingenommen. Er macht im Laufe der Geschichte ein ähnliches Schicksal durch. Ein Unfall und die Quacksalberei der damaligen Zeit kosten ihm ein Bein, doch durch eine Erfindung des Halbbarts und des Schmieds, gewinnt Geni erneut an Ansehen und nimmt eine wichtige Beraterrolle ein. Auch er muss sich mit den Herausforderungen, den teuflischen Anbandelungen der Dorfbewohner und menschlichen Gelüsten auseinandersetzen und steht Sebi bis zum Ende hin in den wesentlichen Punkten zur Seite.
Sie beide übernehmen den intelligenten Part in diesem Roman. Sie sind die Führung des Guten, doch während der eine den Rachegelüsten nicht widerstehen kann, versucht der andere trotz zahlreicher Demütigungen und Beeinträchtigungen sich nicht beeinflussen zu lassen. In Kombination mit den anderen Menschen des Dorfes und ihren neidischen, geizigen, offenherzigen, naiven oder gar eitlen und machthaberischen Eigenschaften ist diese Geschichte ein großartiges Abbild des stetigen Kampfes zwischen Gut und Böse – früher wie heute.

Die dritte Leseart wäre dann die Betrachtung der Erzählung und Glauben als Überlieferungsform. Auch hier bietet dieser Roman reichlich Angriffsfläche und Ausprägungen. Zunächst geht es vordergründig um Vorurteile, Gerüchte und Aberglaube. Mit Sebis Eintritt ins Kloster spielt Gott und die Kirche noch einmal eine viel wichtigere Rolle. Allerdings wird der kirchliche Einfluss immer wieder hinterfragt und auch die Rolle der einzelnen Stufen und Glaubensvertreter in fragliche Bahnen gelenkt. Die weltliche Macht, das Böse und Niederträchtige hält bald Einzug und stellt alles vor eine große Herausforderung und Demütigung. Einzig das Erzählen von Geschichten gewinnt unabhängig vom Glaubens-, Adels- und Herkunftsstand zusehends an Bedeutung. Der Schalk, die stete Herausforderung des sich stets überlegen fühlenden Teufels und das Gewinnen des hinterfragenden Menschen spielt hier eine zentrale Rolle. Die Überlieferung ist dabei stark von der ursprünglichen Idee und Lenkung der Hörer der Geschichten abhängig. Sebi lernt nach und nach die Macht der Erzählung kennen – von der Faszination des Zuhörens, dem vom Dorf zu Dorf Ziehens bis hin zum Erzählen und Setzen der Gewichtung selbst. Als Leser setzt man sich so recht häufig mit der mündlichen Überlieferung auseinander und im Hinblick auf die damalige Zeit, ist eben die Erzählung eine sehr essentielle Form der Wissensgewinnung, denn schreiben und lesen konnten bis dato nur die wenigsten.

Wahrscheinlich könnte man nun alles Mögliche an zahlreichen Situationen, Worten und Gegebenheiten belegen. Charles Lewinsky ist in meinen Augen im Rahmen der mittelalterlichen Zeitepoche ein großartiger Roman über das Wesen der Menschheit mit all ihren Facetten, gegenseitigen Beziehungen und den damit verbundenen Herausforderungen gelungen. In dieser Vielschichtigkeit kann man als Leser auf diesen 668 Seiten sehr viel entdecken, sich zahlreichen Fragen über den Einfluss des Glaubens, der Macht, der Gier usw. widmen und sich nebenbei noch sehr unterhalten fühlen. Die Leichtigkeit während der grausigen und menschenverachtenden Behandlungen und Folterungen einzelner Protagonisten, die während der Zeit um 1313 recht häufig Anwendung fanden, gewinnt dieser Roman durch Sebis kindliche Art der Erzählung, durch die die Brutalität der damaligen Zeit zwar wunderbar zum Ausdruck kommt, aber doch nur sehr gemildert widergegeben wird.
Je nachdem auf welche der oben geschilderten Betrachtung man nun seinen Fokus legt, wird man als Leser sehr gefordert, manchmal leider – sofern man nach großen Spannungsbögen oder einem gewaltig, überraschenden Ende sucht – auch etwas enttäuscht oder eben auch gänzlich begeistert. Hin und wieder fällt bei dieser Erzählung auch ein älteres, schweizerdeutsches oder umgangssprachlicheres Wort. Neben dieser kindlich/jugendlichen Erzählform könnte dies eventuell für einige Leser ein Hindernis für Lesefluss und -begeisterung darstellen und ich empfehle, um weitere Enttäuschungen zu vermeiden, ein kurzes Anlesen des Romans.
Ich für meinen Teil stelle mir dieses Buch nun gerne ins Regal und auch wenn es nicht ganz für den deutschen Buchpreis gereicht hat, so bin ich der Jury sehr dankbar, dass Der Halbbart nominiert wurde und mich dieses Buch nun auch dank des #buchpreisbloggens recht intensiv begleitet hat, denn sonst wäre es wahrscheinlich bei der Masse an Neuerscheinungen etwas untergegangen und das wäre dann wahrlich sehr schade.

“Es ist schwer, an Wunder zu glauben […] aber es ist leicht, andere an sie glauben zu lassen. Sie fangen klein an, wie der winzige Biss von einem Kreuzotterzahn, der doch einen ganzen Menschen vergiften kann. Etwas Ungewöhnliches macht den Anfang, ein einziger Schritt über das Alltägliche hinaus, in der ersten Erzählung werden zehn daraus und in der zweiten schon hundert, aus unwahrscheinlich wird unmöglich, aus unmöglich wird wunderbar, und wenn der Zwanzigste davon hört, muss der Himmel mitgespielt haben oder die Hölle, ein Engel oder ein Teufel. Je nachdem…”

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Charles Lewinsky – Der Halbbart
Diogenes.
688 Seiten. 26 Euro. Hardcover | Leinen.

weitere Rezensionen zu den Titeln der Longlist 2020 und dem Deutschen Buchpreis findet ihr hier:

Seite des Deutschen Buchpreises>>

4. Oktober 2020

3 Comments

  • Reply Buchpreisbloggen 2020 | Kaffeehaussitzer 15. Oktober 2020 at 23:03

    […] booksandnotes (Frank Zabel): Charles Lewinsky, Der Halbbart […]

  • Reply Sandra Falke 18. Oktober 2020 at 22:46

    Eine sehr tiefgehende Rezension! Ich finde es auch immer wichtig, unterschiedliche Lesarten eines Romans / einer Figur zu vergleichen.

    • Reply herrfabel 19. Oktober 2020 at 11:32

      Danke Dir! Ja, total. Ich bin eh so ein Mensch, der sich mit dem Gelesenen gerne auseinandersetzt und rückblickend fand es dann total spannend, die eigene Erwartungshaltung mit dem präsentierten Ende zu vergleichen. Und sobald man dann anfängt, sich selbst und das Ende zu hinterfragen, merkt man eben auch diese Vielschichtigkeit und Besonderheit dieses Romans. So ‘extrem’ habe ich’s allerdings noch nie bei einem Buch vorgefunden.

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