Es ist nicht immer einfach ohne Erwartungen an einen Roman heranzutreten. Für immer die Alpen von Benjamin Quaderer wurde bereits zahlreich besprochen, begeistert gelesen und natürlich auch empfohlen. Und neben der Story machte mich gerade das neugierig auf dieses Buch, aber es setzte eben auch recht hohe Maßstäbe an, die dieser Roman so nur bedingt erreichen konnte. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass dieses Buch auch noch nach Corona und dem nächsten Schub an Neuerscheinungen, den Weg zum Leser findet, denn eine fachlich, nette und unterhaltende Spielerei mit verschiedenen Erzählformen ist es auf jeden Fall.
“Mein Name war einmal Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt, von Sternzeichen Widder und lebe unter neuer Identität an einem Ort, von dem ich zu meinem eigenen Schutz nicht erzählen darf. Sagen kann ich nur so viel: Es gibt hier Wolken und Bäume, Gras gibt es und Tiere, die das Gras fressen…”
Doch was genau ist geschehen, das ihn zum Staatsfeind Nr. 1 macht? In diesem Epos offenbart Johann Kaiser seine persönliche Geschichte, von der Kindheit bis hin zu seinem aktuellen Leben als Untergetauchter. 1965 wird Johann als Sohn der Spanierin Soledad und des Fotografen Alfred Kaiser in Vaduz, Liechtenstein, geboren. Doch seine Mutter verlässt die Familie. Er und seine Schwestern finden sich im Gamander in Schaan wieder. Seine Suche nach seiner Mutter treibt ihn dann ungebremst durch Europa, bis vor die Türen eines Nonnenklosters. Erfolglos kehrt er wieder zurück nach Lichtenstein, wo er die Zuneigung der Fürstin Gina von Liechtenstein für sich gewinnt. Aber das Waisenhaus hinterlässt Spuren. Johann versucht nach außen hin ein faszinierendes, gar mächtigeres Leben anzunehmen, der Name eines berühmten Werkzeugherstellers soll ihm dabei von Nutzen sein, doch damit eröffnet sich für ihn auch das Tor zu Betrügereien, Erpressungen, Steuerhinterziehern und Gewaltverbechern, die ihn entführen, foltern und noch weiterhin bedrohen. Ein durchtriebenes Spiel und der großer Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit beginnt.
“Johann, Johann, wo bist du gewesen? […] Du hast ein Moped geklaut, stimmt’s? Du hast deine Freunde betrogen, stimmt’s? Du bist ein Nestbeschmutzer, stimmt’s? Du hinterlässt verbrannte Erde, wo du hintrittst, stimmt’s? Dein Atem ist giftig, stimmt’s? Du hast jemanden umgebracht, stimmt’s? Und im Gefängnis bist du auch gewesen, Johann, oder? Gell Johann, du bist einer, bei dem man aufpassen muss, ein ganz Harter?”
Bei diesem Buch schwanke ich sehr zwischen Faszination und Begeisterung für die textliche Aufbereitung und herber Enttäuschung für das Emotionale und Menschliche. Denn so toll die Idee und die Geschichte an sich auch ist, Benjamin Quaderer hat es nicht geschafft, dass ich mich nach diesen 585 Seiten mit seinem Protagonisten und Erzähler verbunden fühle. Das Schicksal Johanns war mir teilweise sogar so egal, dass ich dieses Buch einfach so hätte abbrechen können, ohne überhaupt ein schlechtes Gewissen zu haben. In seinem Leben zieht sein Protagonist viele Menschen um sich herum kurzzeitig in seinen Bann, doch was danach passiert ist nicht immer vorhersehbar. Schon der Verlust der Mutter, der Verlust seiner selbst ernannten Ersatzmutter, die fremdelnde Beziehung zu seinem Vater und die Geschwister, die schon frühzeitig genug von ihm haben, seine Imponierungsversuche, die Entführung… alles hinterlässt Spuren, die ihn für immer begleiten und beeinflussen sollen.
Johanns Leben fasst Quaderer nun in Für immer die Alpen zusammen und macht es dabei eher zu großartig, unterhaltender Spielerei. In insgesamt 15 Kapiteln bzw. Lebensabschnitten und einzelnen Büchern, wechselt er zwischen Erzählung, Tagebuch, zweiseitigem Erzählstrang, Berichten, Krimi, zensierten Akteneinsichten, bei denen selbst die Fußnoten teilweise eine sehr wichtige Rolle spielen und neben Verweisen kleine Einblicke in das Seelenleben Johanns zulassen.
“Johann Kaiser […] ist ein Krimineller, der das Fürstentum Liechtenstein in die größte Krise seiner über dreihundertjährigen Geschichte gestürzt hat. Sie werden verstehen, dass ich davon absehe, mich zu einem Verräter und Denunzianten zu äußern. Sagen will ich nur so viel: ich hoffe, dass es ihm schlecht geht. Das können Sie gerne zitieren. Viel Erfolg mit Ihrem Buch.”
Eins wird dabei recht schnell deutlich: Johanns Leben basiert auf Lug und Trug, er ist ein Meister der Hochstaplerei und erzählt, ohne wirklich tief in sein Innerstes blicken zu lassen. Ein Meisterdieb und Staatsfeind par excellence, könnte man so meinen, aber seine Geschichte scheint hauptsächlich von Verlusten, sowie der Suche nach Halt, Zuneigung und einer Aufgabe im Leben geprägt zu sein. Johannes will Gerechtigkeit und überschreitet dabei häufig die Grenzen, ‘leiht’ sich Dinge aus, die ihm nicht gehören und versucht ein ganzes Land zu erpressen. Alles in allem, ist ihm dabei weder das Glück begegnet, noch hat er sich beliebter und gefragter gemacht. Johann ist zu einem vorsichtigen, perfektionistischen und ständig auf der Flucht befindlichen Einsiedler geworden, der scheinbar alles verloren hat, außer die Wahrheit und seine Geschichte.
“Johann Kaiser wird dringend verdächtigt, zum Nachteil einer Liechtensteiner Treuhandfirma Kundendaten ausgekuntschaftet, sich verschafft und ausländischen Behörden preisgegeben zu haben. Gemäss Medienberichten soll Kaiser vom Deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) mit einer neuen Identität ausgestattet worden sein. Es wird ersucht, Erkenntnisse zum Aufenthaltsort Kaisers zu melden. Gegen Kaiser besteht ein internationaler Haftbefehl, weshalb er festzunehmen ist. Die liechtensteinischen Strafverfolgungsbehörden werden unverzüglich die Auslieferung begehren.”
Ich würde nun sehr gerne so etwas wie: “Für immer die Alpen” ist ein bis auf den letzten Punkt rundum perfektes Buch über das Leben des tollkühnen Hochstaplers Johann Kaiser sagen, aber die Nähe und emotionale Achterbahnfahrt sind für mich sehr entscheidende Kriterien, sodass es so dann doch eher bei einer sehr netten Spielerei für zwischendurch bleibt.
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Benjamin Quaderer – Für immer die Alpen.
Luchterhand.
592 Seiten. 22 Euro. Hardcover.
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