Herbstzeit ist auch Thrillerzeit und daher möchte ich euch an dieser Stelle einen, wie ich finde, sehr krassen und impulsiven Thriller aus Polen vorstellen. Die kalten Sekunden von Remigiusz Mróz habe ich bereits vor einer Weile gelesen und finde ihn nach wie vor thematisch sehr stark und eindringlich. Hintergründe dieses Buchs sind nämlich die beängstigend hohen Zahlen der Vermissten und das enorme Ausmaß an häuslicher Gewalt gegen Frauen. Mróz beschränkt dies zwar nur auf Polen, aber ich fürchte, dass man dies beinahe auf die gesamte Welt ausweiten könnte. Desweiteren tun sich hier menschliche Abgründe auf, die am Ende über Leben und Tod entscheiden und nicht nur die Moral infrage stellen… Aber vielleicht fange ich erst einmal mit dem Inhalt an.
“Hätte ich die Frage nur einen Moment früher gestellt, wäre all das nie passiert. Man hätte uns nicht überfallen, ich wäre nicht ins Krankenhaus gekommen und sie nicht für immer aus meinem Leben verschwunden. Dreißig Sekunden hätten gereicht, vielleicht sogar weniger.”
Das sind die Gedanken, die Damian auch noch Jahre später quälen. Vor zehn Jahren machte er seiner Freundin Ewa einen Heiratsantrag. Es sollte der schönste Abend ihres Lebens werden, doch kurz danach zerstörte eine falsche Begegnung ihr ganzes Leben. Vor einem Pub in Opole trafen die beiden auf fünf Männer. Ein kurzes Wortgefecht, eine Schlägerei. Eine Vergewaltigung. Vor den Augen ihres Verlobten, den sie sie zu Boden prügelten und festhielten, vergangen die Kerle sich nacheinander an Ewa. Und dann? Dann war sie weg. Für immer.
“Der Ausdruck von Leid, Schmerz und Demütigung auf ihrem Gesicht brannte sich mir ins Gedächtnis. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.
Zumindest bis zu dem Moment, als ich zehn Jahre später bei Facebook auf ihr Foto stieß.”
Es scheint wie eine Fatamorgana, doch sie ist es tatsächlich. Die Frau, deren Konzertbesuch auf diesem Bild festgehalten wurde, ist seine Verlobte. Damian hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, sie jemals wieder zu sehen und auch für die Polizei, war dieser Fall bereits abgeschlossen. Doch, das ist sie, eindeutig.
Sein bester Freund, der auch auf jenem Konzert war, stolpert zufällig über das Bild oder besser gesagt die Suchanfrage auf Facebook, denn irgendjemand sucht nach der schönen Frau, die ihm dort über den Weg gelaufen ist. Damian und sein Freund setzen nun alles daran Kontakt mit dem Unbekannten aufzunehmen. Doch das Onlineprofil verschwindet nach kurzer Zeit spurlos. Als sein Freund schließlich eine Privatdetektei engagiert, um Ewa zu finden, wird auch dieser hinterrücks umgebracht. Da sich beide zum Zeitpunkt des Todes in der gleichen Wohnung befinden, gerät Domian in Verdacht seinen Freund ermordet zu haben. Er muss fliehen, um sein Leben bangen und vor allem seine große Liebe wiederfinden. Und die einzige Unterstützung, die ihm bleibt, ist Kassandra, die Chefin von Reimann Investigations, die mit dem Fall Ewa beauftragt wurde. Sie warnt ihn, lotst ihn durchs Land, doch auch dies wird schnell ein Spiel mit dem Feuer und auf Domian wartet noch eine viel, viel größere Herausforderung.
“Ich hatte keine Angst zu sterben. Manchmal schien mir das die einzige Möglichkeit, meinem Albtraum zu entkommen.”
Puh. Also was Remigiusz Mróz hier mit dem Leser macht ist wirklich brutal, erschreckend, gewaltig und das in mehrfacher Hinsicht. Bereits die ersten Seiten schnürten mir die Luft ab und ich brauchte erst einmal eine Pause, bevor es dann schonungslos weitergehen konnte. Die Geschichte der beiden Verliebten ist so schmerzhaft, bedrückend und vor allem leider auch so furchtbar realistisch. Eine falsche Begegnung kann ein ganzes Leben verändern oder eben wie hier auf drastische Weise auch zerstören. Mróz vereint in seinem Thriller mehrere extreme Themen, die am Ende ein sehr verstörendes und gleichzeitig faszinierendes Gesamtbild ergeben. Und (Spoileralarm) es ist mal ein Buch, das eben nicht mit einem freudigen HappyEnd aufwartet und gerade das macht es für mich dann auch aus. Die Sogwirkung lässt nicht mit der letzten Seite nach. Es bedarf ‘Verarbeitungszeit’ und selbst das Nachwort setzt dem Ganzen noch einen obendrauf, denn der Hintergrund dieses Buchs sind eben die anfänglich genannten Fakten. Und das lässt einen grübeln, erschüttert betroffen sein und eben auch trauern.
Ich selbst bin über eine Arbeitskollegin einmal mit häuslicher Gewalt ‘in Berührung’ gekommen und was für mich zunächst noch total unverständlich klang, war aufgrund der Verängstigung ihrerseits und der ständigen Ausraster ihres Freundes auch ‘aus der Ferne’ eine grausame Erfahrung. Und Mróz spielt eben genau dieses Spiel, er trifft mit seiner Geschichte ins Mark und lässt den Leser förmlich durch die Seiten fliegen und bis zum Ende bangen. Und schon die Erinnerung an dieses Buch lässt mich nun wieder ins Stocken verfallen… Es ist großartig. Muss ich noch mehr sagen?
Remigiusz Mróz – Die kalten Sekunden
Aus dem Polnischen von Marlena Breuer und Jakob Walosczyk.
Rowohlt Taschenbuch Verlag.
384 Seiten. 10 Euro. Taschenbuch.
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