Wenn das Leben an einem vorbeirauscht – Albrecht Selge “Fliegen”

In Deutschland pendeln wahnsinnig viele Menschen täglich zwischen ihrer Wohnung und der Arbeitsstätte. Für einige von ihnen sind es nur wenige Minuten Weg, für manche Stunden und für wieder andere große Reisen. Doch was ist, wenn man alles verloren hat, man sich die Wohnung nicht mehr leisten kann und einzig ein Fahrticket und eine kleine Reisetasche übrig bleibt? Genau so ergeht es der Protagonistin in Albrecht Selges Roman “Fliegen”.

 

“Ein Teil der Welt, zu der sie weder gehört noch passt: ihr eigenes Leben. Mein Leben, das klingt fast so unheimlich und lächerlich wie Seele. Auch so schön?”

 

Das Buch handelt von einer Frau auf ständiger Reise, abgeschottet von der Außenwelt reist sie täglich von Bahnhof zu Bahnhof, von Nord nach Süd und wieder zurück. Früher hatte sie ein ganz normales Leben mit einer eigenen Wohnung, einem Beruf, ein paar Liebschaften. Heute bleibt ihr einzig eine kleine Reisetasche, ein paar Dokumente, ein kleines gelbes Buch und ihre beste Freundin Lilo, die sie hin und wieder einmal anruft oder besucht. Ihre Rente lässt sie sich einmal im Jahr auszahlen und davon leistet sie sich eine Bahncard100. Ihr Leben fliegt nun auf Schienen. Die Bahn, ihr neues Zuhause stets auf wechselnder Strecke, im gleichen wöchentlichen Rhythmus samt Verspätungen und Hindernissen. So erzählt sie nun in einzelnen Fragmenten von ihrem Innersten, das was sie sieht und erlebt, was in der Außenwelt passiert und wie sie abgeschottet in ihrer ‘hohlen Röhre’ durchs Land zieht und ihr Leben lebt.

 

“Landschaft zog Schlieren. Die Landschaft an manchen Tagen ein immerzu sich aufziehender Vorhang, an anderen Tagen ein immerzu sich zuziehender.
Geheimnis und Gleichgültigkeit der Welt.”

 

Dieses Buch hat mich irgendwie total getroffen, fasziniert und doch unberührt zurückgelassen. Ich selbst war jahrelang Pendler und bin täglich von Lübeck nach Hamburg unterwegs. Ich habe dabei Menschen beobachtet, komische Gespräche geführt, die Zeugen Jehovas gekonnt ignoriert, Menschen die plötzlich ganze Salatgurken auspacken und genüsslich essen gehört… Zugfahren ist immer so unterschiedlich überraschend und auch so skurril, dass es beinahe schon wieder unmöglich ist. Die Frau ohne Namen reist nun auch ständig, im wöchentlichen Rhythmus mit immer den immer gleichen Zügen quer durch Deutschland. Wahrscheinlich hätte ich sie auch als komisch und verrückt abgestempelt und doch möchte ich mehr über sie wissen. Und gerade das ist, glaube ich, dann auch das Spannendste. Selge beschäftigt sich sehr intensiv mit dieser Frau und doch bleibt sie bis zum Ende fast ein Rätsel. Man weiß, sie hat ihre Wohnung verloren, ist Rentnerin, hat einiges in der Bahn erlebt, hat Lilo und dann war’s das beinahe auch schon. Aber das ist dann auch gar nicht weiter schlimm, denn auch wenn man täglich die gleichen Menschen in der Bahn trifft, so weiß man auch nach Jahren des Nebeneinandersitzens recht wenig voneinander und doch, kann man sich leiden.

 

“Die Seele zog Schlieren, die Landschaft auch, alle horizontalen Linien traten hervor: Zäune, Geländer, Straßen […] Die Vertikalen aber verschwammen: die Kiefern verschmierende Strichcodes. Oder standen verloren im Horizont herum, Windräder, Maibäume, Kräne, Kirchtürme.”

 

Sprachlich finde ich “Fliegen” teilweise sehr poetisch, manchmal etwas wirr, manchmal echt und manchmal einfach ganz sensibel und melancholisch. Selge schafft es in “Fliegen” eine in sich ruhende Bahnatmosphäre zu erzeugen, einen Raum zu schaffen, in dem sich einfach so viel gedanklich und real abspielt. Und auch wieder nicht.  Es ist eine Reise wie das Leben selbst. Dass sich dann auch noch gegen Ende einzelne Erzählungen in ähnlicher Art wiederholen, finde ich zum Beispiel sehr faszinierend, zumal es die ständige Routine des Reisens wiederspiegelt, aber auch den Alltag so herrlich beschreibt. Die Protagonistin schaut hinaus in die Welt. Sie blickt hinein in den Spiegel der Dunkelheit und sieht sich selbst. Sie erlebt kaum etwas und scheint doch in ihrer ‘Kapsel’ zu ruhen, obwohl alles stets in Bewegung ist. Und gerade das macht sie als ältere, kleine Frau dann auch wieder so unheimlich zerbrechlich. Wie sie so dasitzt, hofft, dass sie niemand mehr belästigt, und darauf wartet anzukommen.
Das Leben und die Welt geschehen draußen, doch sie sitzt abgeschottet in einem Käfig, schaut hinaus und fliegt wie ein Vogel an allem vorbei und kommt doch nie an. Kurzum dieses Buch ist gedanklich wie sprachlich für mich ein sehr tolle und interessante Reisebekanntschaft geworden. Schon allein die Vorstellung des Reisens selbst, reißt mich immer wieder zurück in diesen Bann und nimmt mich erneut mit, gedanklich in die Geschichte, die Unbekanntheit und das Leben  der Protagonistin einzutauchen. Wahrscheinlich wird sie mich nun immer begleiten.

 

Albrecht Selge – Fliegen
Rowohlt Berlin.
176 Seiten. 20 Euro. Hardcover.

//Leseexemplar

11. März 2019

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