Roman | Wenn das Leben plötzlich an seidenen Fäden hängt… “In Flammen” – ein Land, eine Partei, ein Exempel

Ich weiß gar nicht, was mich an diesem Buch zuerst angesprochen hat, war es die Aufmachung? Waren es die international begeisterten Stimmen, wie jene von Yaa Gyasi, die sagte: “Mit bestechender Schönheit und Klarheit schreibt Majumdar von den Wellen, die unsere Entscheidungen schlagen können … Ein umwerfendes Debüt!” oder doch, dass dieses Buch auf der Longlist des National Book Award 2020 stand? Ich glaube hier kommt echt vieles zusammen, denn “In Flammen” von Magha Majumdar berichtet nicht nur von einem brisanten, gesellschaftlichen Thema, mit Blick auf Indien, sondern zeigt auch sehr eindrucksvoll, was für eine Macht einzelne Ereignisse haben können und in wie weit verschiedenste Leben davon betroffen sind.

“>Wir werden vom System oft übergangen. Aber du hast gesehen, dass man, ab und zu, etwas Gutes für sich erreichen kann.< Und ich dachte mir: nur ab und zu? Ich dachte, ich würde ein besseres Leben haben als dieses.”

In “In Flammen” geht es um drei verschiedene Protagonist*innen, unterschiedlichster Ausgangssituation. Zu einem erzählt Majumdar von Jivan, einer neunzehnjährigen Muslimin, die aus eher einfachen Verhältnissen kommt, sich mehr oder weniger durch ihre Schulzeit geschleppt hat, um sie dann frühzeitig abzubrechen und in einem Klamottenladen arbeiten zu gehen. Lange hat sie dabei Lovely Nachhilfe in Englisch gegeben. Diese (zweiter Handlungsstrang) träumt davon einmal groß raus zu kommen und Schauspielerin zu werden. Dafür probt sie zahlreich, doch aufgrund ihrer Klasse hat sie niemals die Möglichkeit eine ‘A-Rolle’ zu besetzen. Und dann gibt es da noch Jivans Sportlehrer PT Sir, der eher zufällig auf eine Veranstaltung von Bimala Pal und ihrer rechtskonservativen Hindu-Partei gerät und dann in jener Partei nach und nach mehr Einfluss gewinnt. Alle haben ihre mehr oder weniger feste Rolle in diesem Land und versuchen aus ihren ‘Rollen’ auszubrechen und irgendwie auch aufzusteigen, doch ein Brandanschlag auf eine Bahn soll ihr aller Leben so ziemlich durcheinanderbringen. Jivan gerät durch ihre Anwesenheit auf dem Bahnhof und durch einen regierungskritischen Post auf Facebook sehr schnell ins Visier der indischen Regierung. Ihr wird der Terroranschlag angehängt und ausgerechnet PT Sir und Lovely sollen für sie aussagen. Lovely könnte ihre Unschluld bezeugen und sich für Jivan einsetzen, wäre da nicht die Angst vor negativen Meldungen und ihre Hoffnung auf große Rollen in Hollywood. Und PT Sir soll ausgerechnet an diesem Fall ein Exempel statuieren und der Jana-Kalyan-Partei (“Wohlstand für alle”) damit einen großen Gefallen erweisen… das Leben Jivans hängt plötzlich an seidenen Fäden, doch wie werden sich die beiden entscheiden? Werden sie dem Druck der Regierung und der Gesellschaft nachgeben? Oder ja… was dann?

“Das ist der Grund, denke ich, warum wir alle hier sind. Zum Beispiel Americandi. Sie hat einen Mann, der ihr die Halskette stehlen wollte, auf die Straße geschubst. Der Mann stürzte und schlug mit dem Kopf auf das Pflaster auf. Er fiel ins Koma. Das Gericht legte es Americandi zur Last, und hier ist sie nun, seit zehn Jahren oder mehr in einer Haft, die niemals endet. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie die Chance bekommen hätte, ihre Geschichte zu erzählen?”

Jetzt, wo ich noch einmal über das Gelesene nachdenke, finde ich diese Geschichte und die Art, wie Megha Majumdar davon berichtet, hier und da Gesellschaftskritik äußert, die verschiedenen Klassen und Ausgangslagen mit einbezieht, sehr faszinierend und überraschend (anders). Während des Lesens muss ich nämlich sagen, dass dieser Roman erstaunlich ruhig und unterhaltend daherkam. Man ist sich als Leser*in zwar der Brisanz bewusst und dennoch ist es eher ein Buch, das sich mal so nebenbei weglesen lässt und irgendwie recht luftig erscheint. Die Protagonist*innen wechseln einander kapitelweise ab, man bewegt sich schrittweise in Richtung Zukunft und sitzt selbst so ganz fasziniert am Rand und schaut zu, wie sich was und wer vor Gericht verhält, welche Möglichkeiten es gibt und vor allem wie korrupt das ganze geschilderte System eigentlich ist und wie sich Menschen darin verhalten. Ohne nun auf das Ende eingehen zu wollen, zumindest versuche ich es gerade so ein bisschen zu vermeiden, so war ich gerade auf den letzten Seiten ziemlich erstaunt. Ich dachte, das Buch würde so richtig gewaltig enden, mehr Emotionen hervorrufen und irgendwas mit mir machen, aber irgendwie habe ich es dann doch eher mit einem abgeklärten “Ach, ja. Gut, dann ist es so.” abgeschlossen. Und das fand ich dann, wenn man an dieses gesamte Themenspektrum denkt, äußerst schade. Wobei man natürlich auch immer wieder sagen muss, dass dies ein leicht zugänglicher Roman ist, der über eine sehr fragwürdige Politik berichtet und zeigt, was Menschen in unterschiedlichen (Gesellschafts-)Klassen wichtig ist und wie das Leben in den eher ärmlichen Teilen der Welt aussieht. Wahrscheinlich würde er auch in Indien nicht allzu begeistert aufgenommen werden, aber aus thematisch, kritischeren Gründen.
Irgendwie fehlte mir etwas mehr Tiefe, Nähe oder Verbundenheit, Kampf und Hoffnung. Vielleicht könnte man diesen Roman so ein bisschen mit Laetitia Colombanis “Der Zopf” vergleichen oder in eine “Wer dieses Buch mochte, wird auch dieses mögen”-Empfehlung verpacken… ein interessantes Setting, drei Protagonist*innen, ein verbindendes Element und drei völlig unterschiedliche Situationen und Entwicklungen. Ich habe diesen Roman wirklich gern gelesen, aber hätte mir auch irgendwie auch etwas mehr gewünscht. Optisch ist es für mich natürlich ein großes Highlight und dann guckt man wieder raus, denkt an das aktuelle Geschehen hier vor Ort, an Corona und ist gleich wieder verwundert, was so etwas aus den Menschen macht. Parallelen gibt’s da mit diesem Roman so einige, aber vielleicht lest ihr lieber erst einmal selbst.

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Megha Majumdar – In Flammen.
Aus dem Englischen von Yvonne Eglinger.
Piper.
336 Seiten. 22 Euro. Hardcover.

28. Februar 2022

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