Roman | “Am Rand der Dächer” – ein ungewöhnlicher Blick und eine sehr eindrucksvolle Erinnerung an das Berlin der Nachwendezeit

Ich liebe es, wenn Bücher sich ergänzen. Großartig finde ich es auch, wenn Bücher irgendwie Ähnliches erzählen und doch so ganz unterschiedlich sind. “Die Gespenster von Demmin” (siehe vorletzter Beitrag) war eine Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mädchens, dass weg möchte, raus in die Ferne, in die große Stadt, da wo Abenteuer möglich sind. Und in diesem Roman begeben wir uns nun in die Großstadt bzw. in die Hauptstadt/ das Berlin der 90er Jahre und begleiten dort Andrej und seinen Freund Simon beim Heranwachsen, Aufmüpfigwerden und irgendwie auch beim vom-rechten-Pfad-Abkommen. Es ist eine Geschichte zwischen ständiger Veränderung, Bandenkriegen, Freiheitswünschen und auch hier einer eindeutigen Endlichkeit.

“Seit wir aus dem Kinderschlaf erwacht waren, zog es uns in den Leerstand, in die Bruch- und Trümmerbuden, wir spürten ihre schlummernde Kraft, lebten in der Faszination für die Märchenwelt des Verwahrlosten, kannten den Taumel, ein verschollenes, vor Urzeiten verlassenes Gebiet zu betreten, es wie im Rausch zu durchstreifen, zu entdecken, ein rostiges Taschenmesser oder eine bunte Zigarrenbüchse zu finden und als Beweis für die, die nicht dabei waren, mitzunehmen.”

So könnte man den Roman Am Rand der Dächer von Lorenz Just vielleicht in Form eines Zitats gut zusammenfassen, nur, dass es am Ende dann keine Trümmerbuden und rostigen Taschenmesser mehr sind, sondern ganz normale Wohnungen und allerlei teurer Kram. Aber eins nach dem anderen, denn die Geschichte beginnt ganz harmlos auf dem Spielplatz, mit Simons Gipsarm und der dazugehörenden Geschichte über eine Boa. Andrej erinnert sich an seine Kindheit, erzählt von seinen Freunden, seiner Familie, von der Zeit, wie sie durch Berlin gezogen sind, kokelten, an andere Gangs gerieten oder auch mal fasziniert einen Holzschuppen in Brand gesteckt haben. Zu Zeiten der Wende hat sich in Berlin einiges verändert. Alteigentümer kehrten plötzlich zurück, chaotischer Leerstand herrschte und Häuser wurden besetzt – So wie dann auch die Nr.5, direkt in der Nachbarschaft in der Sackgasse der Kleinen Hamburger Straße. Doch dies soll nicht ewig so bleiben, nach und nach durchzieht die Gentrifizierung die Stadt und aus den einstigen Abrissbuden mit Schusswunden werden neue Wohnräume für neue, wohlhabendere Bewohner.
Dieser Roman ist dabei so eine Art Streifzug durch die städtische Entwicklung der 90er bis 00er Jahre und gleichzeitig ein Rückblick auf Andrejs Kindheit und Jugend. Wir, als Leser, begleiten ihn durch seine in Erinnerung gebliebenen Höhen und Tiefen, seine Streif- und Plünderungszüge durch die Stadt, die erste Liebe, Drogen, Jugendstreiche… die Liste ist lang und auch wenn dieser Roman hier und da mal ein paar kurze Längen hat, ist dieses nur eins: die Jugend und das Leben selbst.

“Irgendwie folgte alles einer äußerst komplizierten, sich aus verschiedenen Faktoren herleitenden, zuletzt aber unabwendbaren Verkettung von Ereignissen, die ich, wenn überhaupt, nur grob nachvollziehen konnte. Am Anfang stand unzweifelhaft die Wende, die nicht weiter hinterfragt wurde.”

Diesen Roman finde ich als Gesamtpaket unglaublich spannend. Bereits die grafische Aufmachung, die selbst unter dem Schutzumschlag nicht Halt macht, hat es mir sehr angetan. Inhaltlich hat dieses Buch dann auch so einiges zu bieten. Thematisch wühlen wir uns durch eine ganz besondere Zeit des Umbruchs und irgendwie auch des Kampfes.
In Andrejs Erinnerungen prallen sehr häufig verschiedenste Gesellschaftsschichten und Lebensumstände aufeinander. Es kommt zu Auseinandersetzungen und Vermischungen. So treibt es Andrej in die besetzten Häuser, er und seine Freunde bewerfen andere vom Fenster aus mit Wasserbomben, sie liefern sich Rangeleien mit Jugendlichen, er steigt mit Simon in teurere Apartments ein und bestielt dabei gerade die neuen Anwohner, eine Softairpistole, sowie Einschusslöcher spielen immer mal wieder eine Rolle usw usw. Für mich es irgendwie so eine Art Aufruhr, die gerade durch Justs Protagonisten verkörpert wird. Und dann ist dieses Buch eben so ein Rückblick in die Nachwendejahre der Hauptstadt und aber auch eine Sammlung von persönlichen Erfahrungen und Werten, wie Andrejs Abkapseln von seinen Eltern, Kindheitserinnerungen, die erste Liebe, das Erwachsenwerden und das Ausprobieren und Ausweiten der eigenen Freiheiten. Die nahende Endlichkeit, hier in Form der Veränderung und eines Schüleraustauschs, machen die Erzählung noch einmal so ein bisschen wehmütig, aber stoßen auch ganz eigene Gedanken über das Leben und die Welt an.

“In Geschichten gab es Wesen, die an genau solchen Orten wohnten, im Abseits der Häuser, auf Mauern, in Ecken, in Nischen, wo sich entgegen aller architektonischen Wahrscheinlichkeit doch noch eine unscheinbare Tür befand. Und unbelehrbar, wie ich war, überkam mich an solchen Orten immer wieder die irrige Hoffnung, einmal einer solchen Existenz zu begegnen.”

Und was ich dann sehr gerne mag, ist diese Mischung aus den ausdrucksstarken, tiefgründigen Gedanken, teilweise gar poetischen Ansätzen und ihrer Alltäglichkeit, Banalität und dem bildhaften Treiben durch und über die Dächer der Stadt. Just schreibt noch nicht mal so wirklich emotional vereinnahmend und trotzdem reißt einen dieser Roman und seine Charaktere mit. Vielleicht liegt es daran, dass hier eher die eigenen Erinnerungen an eine Zeit, die sich so niemals wiederholen wird, zurückkehren und man sich teilweise so ein bisschen mit den Jungs vergleicht und sich fragt, wie alles anders geworden wäre, wäre da eben nicht dieses und jenes passiert, wäre der Umgang und die Umgebung eine andere gewesen oder hätten die Eltern mehr dagegen unternommen. Vielleicht ist es aber auch einfach das Buch für meine, Justs und Andrejs Generation, auch wenn nicht gerade jeder damals ein erfolgreicher Einbrecher war. Ich mag solche Gedankenspiele, Erinnerungen und so ist dieses Buch im Vergleich für mich auch ein Highlight in Sachen Coming-of-Age. Und vielleicht ja auch bald deins?!

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Lorenz Just – Am Rand der Dächer
Dumont.
272 Seiten. 22 Euro. Hardcover.

16. September 2020

2 Comments

  • Reply Mikka 23. September 2020 at 16:10

    Hallo,

    das ist eine wunderschöne Rezension zu einem Buch, das für mich selber ein absolutes Highlight war! Sehr schön beschrieben.

    LG,
    Mikka

  • Reply [ Mikka liest das Leben ] [ Das Köfferchen ] Besuchte Buchblogs #19 2020 27. September 2020 at 16:13

    […] Roman | “Am Rand der Dächer” – ein ungewöhnlicher Blick und eine sehr eindrucksvolle Erinner… […]

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